Sehr interessantes Interview

Taktik-Interview mit Mario Himsl
"Bayern Vorbild für modernen Fußball"

Die Bundesliga-Saison 2015/2016 steht vor der Tür. Auch in dieser Spielzeit geht es wieder darum: Wie ist der FC Bayern München zu stoppen? Im Taktik-Interview spricht Mario Himsl, Jahrgangsbester der Fußballlehrerausbildung 2010, über die Gründe für die Münchner Dominanz und Wege zum Erfolg. Außerdem erklärt er, warum es im Fußball um Erfolgswahrscheinlichkeiten geht und wie der Aufstieg von Borussia Mönchengladbach zustande kommt.



© getty Ein klare Strategie und Richtung: "Guardiola ist der Minimalist auf höchstem Niveau"

SPOX: Herr Himsl, Hans-Joachim Watzke hat im Vorfeld der neuen Saison und mit Blick auf ein mögliches Engagement von Jürgen Klopp beim FC Bayern gesagt: "Bei Bayern kannst du ja auch nicht so viel falsch machen. Meister werden die sowieso." Was sagt der Fußballlehrer in Ihnen dazu?

Mario Himsl: Wenn es so einfach ist, könnte der FC Bayern mich ja auch nehmen (lacht). Nein, ich kann Herrn Watzke natürlich zustimmen, dass der FC Bayern der Top-Favorit auf die Meisterschaft ist. Trotzdem halte ich solche Aussagen von angesehenen Managern oder Präsidenten für sehr mutig. Die Sätze klingen immer sehr nach vorzeitigem Ergeben. Aus Sicht eines Fußballlehrers muss ich anerkennen, welche Spielstrategie der FC Bayern in den letzten Jahren entwickelt hat und wie er diese umsetzt. Der FC Bayern ist ein Vorbild für modernen Fußball und absolut nachahmenswert. Hier können sich junge Spieler anschauen, wie Fußball auf höchstem Niveau richtig funktionieren kann. Das gab es jahrelang in der Bundesliga nicht.

SPOX: Die Dominanz der Bayern wird auch immer auf die finanzielle Überlegenheit heruntergebrochen. Ist Bayern der Favorit, weil sie die größten Möglichkeiten und die besten Spieler haben?

Himsl: Dagegen wehre ich mich als Trainer. Natürlich hat Bayern in der Breite und in der Spitze den besten Kader, aber eine Menge Einzelspieler formen noch kein Top-Team. Wenn der FC Bayern 2013 25 Punkte und 2014 19 Punkte Vorsprung auf den Zweiten hat, liegt das nicht alleine an den besseren Spielern. Dass es letzte Saison "nur" zehn Punkte auf Wolfsburg waren, lag auch an den drei für Bayern belanglosen Niederlagen in der Schlussphase der Saison, als sie schon Meister waren. Die Überlegenheit hängt für mich eindeutig mit der Strategie sowie der Spielidee der Mannschaft zusammen und wie diese auf dem Platz umgesetzt werden. Dabei spielt der Trainer eine große Rolle. Ein Spieler braucht Anleitung, denn auf viele Sachen kommt der Spieler bei aller Qualität von alleine gar nicht.

SPOX: Trotzdem steht Trainer Pep Guardiola immer wieder in der Kritik.

Himsl: Das kann ich nicht nachvollziehen. Aus meiner Sicht passieren im Spiel des FC Bayern so viele positive Dinge, die die Grundidee des Fußballs ausmachen. Denn die Grundidee lautet: Ich will mit dem Ball spielen - und nicht 90 Minuten dem Ball hinterherrennen. Wir alle sollten uns hinterfragen, was und wen wir kritisieren und uns etwas zurücknehmen. Bei der Analyse geht es immer darum: Konzentriert Euch aufs Wesentliche. Wenn ich das Aus in der Champions League hernehme, komme ich zu dem Schluss: Das Aus hatte nichts mit der Strategie zu tun. Auf diesem Spitzenniveau gegen Mannschaften wie den FC Barcelona musst du topfit sein und mit der besten Elf auflaufen. Das konnte der FC Bayern unter Jupp Heynckes, als er 2013 das Triple gewann. Guardiola konnte das letztes Jahr nicht.

SPOX: Guardiola wirkte zuletzt genervt von den ständigen Debatten.

Himsl: Ich kann nachvollziehen, dass Guardiola diese Kritik nervt. Es gibt vielleicht weltweit keinen Klub, bei dem diese plumpe Erwartungshaltung im Umfeld so groß ist. Es ist ein völliger Witz, dass der FC Bayern den Meistertitel der Öffentlichkeit schon als Erfolg verkaufen muss. Das gibt es nur in Deutschland. 34 Spiele auf diesem Niveau abzuliefern, ist eine absolute Topleistung. Das müsste jeder wissen, der irgendwann mal Fußball gespielt hat. Man hat gesehen, wie schnell auch Spiele gegen Augsburg oder Freiburg verloren gehen, wenn die Spannung nicht mehr zu hundert Prozent da ist.

SPOX: Die Bayern haben drei Meisterschaften in Folge gewonnen. Als Borussia Dortmund 2011 und 2012 den Titel holte, wurde der Klopp-Fußball zum Vorbild. Viele Mannschaften haben das Balljagen und das Umschaltspiel zu ihrem Credo erklärt. Müsste sich die Liga aufgrund der aktuellen Münchner Dominanz jetzt an diesem Stil orientieren?

Himsl: Jeder Trainer und auch ich muss andere Herangehensweisen und andere Strategien respektieren. Viele Vereine können damit eine ordentliche Rolle in der Liga spielen, die Klasse halten und damit leben, dass es nie für ganz oben reicht. Aber wenn wir über die absolute Spitze sprechen, gibt es auch Teams, die sich zu sehr hinter den finanziellen Möglichkeiten der Bayern verstecken, ohne ihre Strategie zu hinterfragen.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Himsl: Der Fußball ist deswegen so interessant und begeisternd, weil er so unberechenbar und spannend ist. Es ist unmöglich, eine definitive Vorhersage zu treffen. Deshalb kann es bei allen Überlegungen in diesem Sport nur darum gehen, die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu erhöhen. Fußball ist im Grunde genommen ein Fehlerspiel und wie ein sehr erfolgreicher Trainer einmal gesagt hat: der ständige Kampf gegen den Zufall - den man als Trainer versucht zu minimieren. Daher kann man im Fußball mit vielen Strategien auch teilweise großen Erfolg haben. Die absolute Weltspitze im Fußball zeigt aber, dass man für dauerhaften Erfolg mit der Kugel umgehen können muss. Und dies äußert sich bei diesen Mannschaften durch hohe Ballbesitzphasen, dominanter Spielweise mit dem Ball und nicht über das Hinterherlaufen und das Hoffen auf Fehler des Gegners. Denn wenn der Gegner wenig bis keine Fehler macht, bist du mit der Strategie des "Auf-Fehler-Hoffens" aufgeschmissen. Einige Klubs haben das erkannt und versuchen deshalb die Strategie der Bayern zu adaptieren.

SPOX: In der Liga scheint sich der Wettstreit zwischen diesen zwei Ideen gerade zu verfestigen. Auf der einen Seite Trainer wie Roger Schmidt und Markus Gisdol, die gnadenloses Pressing und wildes Spiel nach vorne predigen. Auf der anderen Seite Trainer wie Guardiola und Armin Veh, die den Ball haben und von geleiteten Fehlpässen nichts wissen wollen.

Himsl: Bevor ich darauf eingehe, lassen Sie uns noch eine grobe Einteilung in drei Grundstrategien vornehmen.

SPOX: Gerne.

Himsl: In der Trainerausbildung und im allgemeinen Sprachgebrauch werden immer grob drei grundlegende Strategien behandelt. Die Einteilung wird dadurch erleichtert und gibt dem Ganzen eine übersichtliche Struktur. Da gibt es erstens das Abwehrpressing mit Konteraktionen. Heißt: Hinten gut stehen und gegen die aufgerückte gegnerische Mannschaft überfallartig zum Erfolg kommen. Zweitens das Mittelfeldpressing. Heißt: Nach Ballgewinn im Mittelfeld schnell nach vorne spielen, um die Lücken auszunutzen, aber auch gut kombinieren, um enge Situationen im Mittelfeld aufzulösen, in denen ein schnelles Umschalten nicht möglich ist. Und drittens das Angriffspressing: Ständiges Anlaufen des Gegners, schon weit in dessen Hälfte in dauerhaft hohem Tempo, um vor allem lange Bälle zu erzwingen und dadurch schnell wieder in Ballbesitz zu kommen. Im Anschluss vermehrt zielgerichteter Kombinationsfußball, aber auch schnelle Umschaltaktionen bei Ballgewinn.

SPOX: Und der Wettstreit zwischen diesen Ideen in der Liga?

Himsl: Ich würde es eher als eine rein unterschiedliche Sichtweise auf Fußball verstehen, die anscheinend zurzeit herrscht und diskutiert wird. Das macht die Auseinandersetzung mit dem Thema so spannend, aber manchmal auch müßig. Und diese grundlegenden Unterscheidungen wie oben dargestellt verschwimmen immer ineinander.

SPOX: Die reine Lehre gibt es nicht.

Himsl: Der FC Bayern jagt den Ball in Hochgeschwindigkeit, weit in der gegnerischen Hälfte, verteidigt ständig nach vorne und steht oft mit der Abwehr komplett in der gegnerischen Hälfte. Aber vor allem zu dem Zweck, so schnell wie möglich in Ballbesitz zu kommen und mit dem Ball spielen zu können. Diese ständige Bereitschaft, in Hochgeschwindigkeit zu agieren, gepaart mit einer hohen Fähigkeit, mit dem Ball spielen zu können und auch unter Druck ruhig und präzise zu bleiben, bilden zudem die Grundlage für erfolgreiche Konter nach Ballgewinn. Die Komponente des "Mit-dem-Ball-Spielens" ist dabei um ein Vielfaches größer als bei anderen Teams. Dies zeigt sich unter anderem an den Passstatistiken und der Passquote.

SPOX: Und das Zusammenspiel dieser Komponenten erhöht die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg.

Himsl: Genau. Doch jetzt kommt das große Aber: Ein richtig oder falsch gibt es nicht. Am Ende zählt im Fußball der Erfolg, daran wird der Trainer gemessen. Wir sind nicht in der Ausbildung, wir sind in der Realität und da müssen 70.000 Zuschauer mit einem Sieg zufriedengestellt werden. Aber eine Frage steht trotzdem über allem.

SPOX: Welche?

Himsl: Warum entscheide ich mich für meine Strategie und habe ich damit die größte Wahrscheinlichkeit auf Erfolg? Natürlich ist es einfacher zu verteidigen als anzugreifen. Auch für einen Trainer ist es leichter zu sagen: Wir spielen lang und gehen auf den zweiten Ball. Man kann ja nie genau vorhersagen, was passiert. Es ist um einiges schwieriger zu sehen, welche Dinge bei Ballbesitz falsch laufen. Sich aber hinter der angeblich unterlegenen Qualität der Spieler im Vergleich zum FC Bayern zu verstecken, greift für mich zu kurz.

SPOX: Welche Mannschaften der Bundesliga nehmen sich die Spielidee der Bayern als Vorbild?

Himsl: Borussia Mönchengladbach und der VfL Wolfsburg zum Beispiel. Bei beiden Vereinen passiert gerade etwas in der Art und Weise, wie sie Fußball sehen. Sie beobachten die Spitze und setzen meiner Meinung nach auf die Strategie des "Mit-dem-Ball-Spielens".

SPOX: Gladbach hat in den letzten Jahren immer wieder Schlüsselspieler verloren, dennoch hat Trainer Lucien Favre das Team nach und nach weiterentwickelt. Zeigt dieser Fortschritt, dass die Idee wichtiger ist als das Personal?

Himsl: Erfolg ist ein Zusammenspiel vieler Komponenten. Allein der beste Trainer reicht ebenso wenig wie allein die beste Strategie oder die besten Spieler oder der beste Manager. Es gibt so viele gute Fußballer, nicht nur der FC Bayern hat 25 super Kicker in seinem Kader. Max Eberl hat das Auge für Spieler, die zur Borussia passen. Der aus Hannover verpflichtete Lars Stindl ist ein Paradebeispiel dafür. Wenn du diesen Spielern wie in Gladbach die Möglichkeit gibst, mit dem Ball zu spielen und sie dahingehend anleitest, werden sie Erfolg haben. Denn gute Spieler wollen den Ball haben und nicht gegen ihn arbeiten. Das ist meine Überzeugung.

SPOX: Ist Gladbach ein Vorbild für andere Bundesligavereine?

Himsl: Gladbach ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Das geht bei den handelnden Personen los und hört bei den Fans auf. Ich wünsche Gladbach, dass sie sich dauerhaft oben festsetzen. Wichtig dabei ist, dass auch die Spieler und die Berater erkennen, dass sich bei der Borussia einiges tut. Der FC Bayern ist nicht die einzig interessante Adresse in Deutschland.

SPOX: Was zeichnet die Borussia unter Favre aus?

Himsl: Wenn ich mir das Spiel Gladbachs und die Statistiken der letzten Saison anschaue, dann tendiert Favre klar in die Richtung des "Mit-dem-Ball-spielen-Wollens". Im Passspiel, einem wichtigen Indiz dafür, belegte Gladbach laut Opta mit einer Anzahl von 18.772 Pässen und einer Quote von 82,7 Prozent hinter Bayern (25.085 Pässe, Quote 87,5 Prozent) den zweiten Platz. Vor allem das Passspiel in der gegnerischen Hälfte ist mit einer Zahl von 9254 und der Quote 75,5 Prozent auch das zweitbeste der Liga hinter Bayern (13.866 und 82,6 Prozent), aber weit vor allen anderen Mannschaften. Nur Dortmund spielte mehr Pässe in der Hälfte des Gegners (10.385), weist aber mit 69,5 Prozent eine viel geringere Erfolgsquote auf. Bei dem für das Ballbesitzspiel ebenfalls sehr wichtigen Kriterium der erfolgreichen Zweikämpfe liegt Gladbach zudem mit einer Quote von 52,2 Prozent knapp hinter Bayern (52,8 Prozent) und Wolfsburg (52,3 Prozent) auf Platz drei. Denn nur eine gute und erfolgreiche Zweikampfführung sorgt dafür, dass du schnell wieder in Ballbesitz kommst.

SPOX: Abgesehen von statistischen Werten: Was charakterisiert Gladbachs Spiel auf dem Platz?

Himsl: Gladbach bereitet seine Angriffe und Chancen gezielt vor. Favre will sich Chancen erspielen und nicht auf den Zufall oder auf das Unvermögen des Gegners hoffen, sondern dem Spiel seine Richtung geben. Bei Favre spielen die Themen geleiteter Fehlpass oder der ständige Kampf um zweite Bälle keine Rolle. Gladbach will seine spielerische Klasse zeigen, es geht um spielerische Lösungen und Eigeninitiative. Im letzten Drittel des Spielfeldes verfügt die Borussia zudem über eine enorme Geschwindigkeit und Präzision, durch die sie gepaart mit der guten Vorbereitung die Angreifer in Szene setzen kann. Dazu kommt eine hohe Disziplin beim Verteidigen. Hier geht es aber weniger um das hohe Anlaufen und das ständige Jagen, sondern eher um das Lauern aus der 4-4-2-Grundordnung heraus. Mit ihrer Geschwindigkeit und der Präzision im Spiel mit dem Ball ist Gladbach dann immens gefährlich im Umschaltspiel nach Ballgewinn.

SPOX: In der Rückrundentabelle war Gladbach Erster und Wolfsburg Zweiter, die Bayern kamen nur auf Platz drei. Sind Gladbach und Wolfsburg auch in der neuen Saison die härtesten Konkurrenten der Münchner?

Himsl: Ob es zur Meisterschaft reicht, ist schwer zu sagen. Aber beide sind auf einem sehr guten Weg und werden erfolgreiche Saisons spielen. Sowohl Gladbach als auch Wolfsburg setzen ihre Strategie sehr gut und sehr attraktiv um. Vor allem Gladbach zeigt, dass es dabei nicht nur auf die finanziellen Mittel ankommt. Die Bayern sind zwei, drei Schritte weiter und können ihre Strategie durch die Breite ihres Kaders fast problemlos durchziehen. Gladbach und Wolfsburg müssen sich noch feinere Strategien überlegen, weil vielleicht mal ein Spieler auf einer Position nicht funktioniert. Aber wichtig dabei ist, dass sie ihren Weg knallhart weitergehen, mutig spielen und auf ihre Qualität vertrauen, auch wenn es einmal Rückschläge geben sollte.



Quelle: spox.com


Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.
Alexander Freiherr von Humboldt (1769 - 1859)