"Wo ist der Charakter geblieben?"

Der FC Bayern und die Jugendarbeit - ein schwieriges Thema. Im Interview erklärt Wolfgang Dremmler, Leiter des Nachwuchsleistungszentrum, welche Probleme die Jugendarbeit hat, worauf der wahre Fokus liegt und warum er den Käse von fehlender Durchlässigkeit zu den Profis nicht mehr hören kann. Außerdem spricht er über das neue NLZ, Uli Hoeneß' frischen Wind und Kritik der Konkurrenz.



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Wolfgang Dremmler ist seit August 2012 Leiter des NLZ des FC Bayern München


SPOX: Herr Dremmler, Sie sind mit dem FC Bayern vier Mal Meister, drei Mal Pokalsieger, und mit der Nationalmannschaft 1982 Vize-Weltmeister geworden. Wie ist Ihre Karriere als Spieler einst ins Rollen gekommen?

Wolfgang Dremmler: Das waren ja keine Karrieren früher... Wir haben auf der Straße gespielt, dann in einem Verein und wenn du Glück hattest, hat dich irgendjemand gesehen. So bin ich von Union Salzgitter 1973 zu Eintracht Braunschweig gewechselt, die gerade aus der Bundesliga abgestiegen waren. Unter Trainer Otto Knefler haben wir den sofortigen Wiederaufstieg geschafft und über Paul Breitner bin ich zu Bayern München gekommen.

SPOX: Eine fußballerische Ausbildung wie heutzutage in Nachwuchsleistungszentren gab es noch nicht. Was hätte der Spieler Dremmler durch dieses System besser gekonnt?

Dremmler: Gute Frage. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich glaube nicht, dass die Ausbildung in der heutigen Zeit dafür da ist, um etwas besser zu machen als in den 60er, 70er Jahren. Die Kunst der heutigen Ausbildung ist es, einen Spieler im Tagesablauf besser zu managen, weil der Tag bei den Jungs so vollgepackt ist, dass sie kaum Zeit für einen Freund oder eine Freundin haben. Trotzdem gehen einige abends runter auf den Platz und üben Freistoßsituationen. Das ist schon grenzwertig.

SPOX: Dafür ist die Betreuung heute umfänglicher, die Bedingungen sind besser und die technische Ausbildung ist auch auf einem anderen Niveau.

Dremmler: Ohne Zweifel. Wobei mich das Wort Ausbildung im Fußball stört. Der liebe Gott küsst dich auf die Stirn und dann bist du ein Fußballer. Der eine ist physisch gut, der andere technisch, der dritte ist ein Stratege, der vierte ist ein Kämpfer. Alle können gut mit dem Ball umgehen, sonst würden sie gar nicht in einem NLZ spielen. Was wir heute viel besser machen ist, dass wir jede Trainingseinheiten nutzen, um die Feinheiten des Talents weiter zu justieren.

SPOX: Wenn es ein Spieler zum Profi schafft, wie viel Prozent macht dabei Talent aus?

Dremmler: Man kann es nicht benennen, aber das Talent ist die Basis und der wichtigste Baustein. Nehmen wir das Beispiel Thomas Müller. Wenn Sie mich damals gefragt hätten: Wird dieser Junge mal Weltmeister? Dann hätte ich gesagt: Er kann sicherlich Profifußball spielen.

SPOX: Mittlerweile hat er es zum Champions-League-Sieger und Weltmeister geschafft. Beim Titelgewinn in Brasilien standen fünf Spieler in der Startelf, die aus der Jugend des FC Bayern stammen. Trotzdem müssen Sie immer wieder mit dem Vorwurf leben, dass die Jugendarbeit nicht gut sei. Wie gehen Sie damit um?

Dremmler: Diesen Käse kann ich nicht mehr hören. Ich habe 2012 als Abteilungsleiter die Nachfolge von Jörg Butt übernommen...

SPOX: ...zu einem Zeitpunkt, als beim FC Bayern Unruhe im Nachwuchsbereich herrschte. Andries Jonker hatte seine berühmte Abschiedsmail geschrieben und die Jugendarbeit als "steifes Bein" des Klubs bezeichnet. Uli Hoeneß sagte: "Wir werden Gas geben wie nie zuvor in diesem Verein."

Dremmler: Wir haben damals bei der Zertifizierung auch nur einen Stern bekommen. Das haben wir relativ schnell korrigiert. Wir sind auch mit den Trainern, der sportlichen Leitung und den Betreuern zusammengesessen und haben gefragt: Was fehlt euch? Was ist nicht gut? Weil, wenn der FC Bayern München nicht die Möglichkeit hat, ein Drei-Sterne-Ausbildungssystem auf die Beine zu stellen, dann stimmt die Welt nicht mehr. Aber wir haben nicht gesagt: Ihr bringt zu wenige Spieler raus.

SPOX: Sondern?

Dremmler: Wie können wir die wenige Zeit, die wir haben, besser nutzen. Unser Ansatz ist folgender: Wir wollen die Spieler auf ihrem Weg vernünftig begleiten. Sie sollen in die Schule gehen, eine Ausbildung machen und am Ende des Tages hoffentlich einen Profivertrag unterschreiben. 1995 haben Heiner Schuhmann, Björn Anderson und ich das Junior Team aufgebaut. Dabei haben wir festgelegt: Die Persönlichkeit ist das Allerwichtigste eine Fußballers. Die zweite Säule muss die Schule sein, weil die dritte, Fußball, birgt die geringste Wahrscheinlichkeit auf Erfolg. Deshalb ist der Fußball die kleinste Säule.

SPOX: Es geht Ihnen eher darum, klar denkende Menschen auszubilden als gute Sportler?

Dremmler: Das ist der Schwerpunkt unserer Arbeit. Nur die wenigsten schaffen es nach oben, deshalb suchen wir nach Alternativen. Klar, die Jungs sollen Fußball spielen nach der Schule, das soll ihr erster Gedanke sein. Aber wir wollen den Zeitpunkt nicht verpassen, dass sie ein Studium oder eine Ausbildung nebenher machen können. Da müssen wir drei, vier Möglichkeiten haben, auch mal einen Bürokaufmann auszubilden.

SPOX: Der Gedanke über den Fußball hinaus zeichnet Sie schon immer aus. Sie sind unter anderem Botschafter und Kuratoriumsmitglied für die Sepp-Herberger-Stiftung des DFB in der JVA Stadelheim und nehmen die Spieler aus der Jugendabteilung auch mal mit ins Gefängnis. Was wollen Sie damit erreichen?

Dremmler: Wir wollen unseren Spielern zeigen, dass es noch eine andere Welt gibt, in der du dir nicht einfach neue Schuhe oder neue Klamotten holst, wenn du sie brauchst und am Spieltag mit einem riesengroßen Bus irgendwo hinfährst. Die Jungs haben alle ein Paket zu tragen, aber es gibt noch andere Menschen, denen es schlechter geht. Unsere Jungs kommen manchmal so auf den Trainingsplatz. (Steht auf und schlurft mit hängenden Schultern durch sein Büro.) Da gehe ich zum Fenster und sage: 'Hey, meine Herren, keine Lust auf Fußball? Dann könnt ihr gleich wieder umdrehen und nach Hause gehen.'

SPOX: Wie fällt die Reaktion der Jugendlichen aus, wenn Sie die Situation in einem Gefängnis hautnah erleben?

Dremmler: Sie verstehen es nicht. Aber das Erstaunlichste waren die Reaktionen einiger Eltern. Deren Erlaubnis brauchen wir, um diesen Besuch machen zu dürfen. Es waren tatsächlich Eltern dabei, die gesagt haben: 'Nein, Herr Dremmler, mit diesem Abschaum der Gesellschaft haben wir nichts zu tun, mein Sohn geht da nicht mit.' Da habe ich mir gedacht: Hoppla, großartig, super, gute Information.

SPOX: Funktioniert dieser Ansatz, junge Menschen auf das echte Leben vorzubereiten, und die Spieler haben am Ende ihrer Zeit hier im Junior Team kapiert, dass die große Fußballwelt auch eine Scheinwelt ist?

Dremmler: Lassen Sie mich das mit einem Beispiel beantworten: Wenn ich mit einem Spieler und seinen Eltern hier sitze und ihnen sagen muss, dass es in der nächsten Saison aus verschiedenen Gründen nicht weitergeht, dann sind nicht die Spieler das Problem.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Dremmler: Die Jungs sind Männer geworden, sie sind klar im Kopf, stehen auf, geben dir die Hand und sagen: 'Okay, Herr Dremmler, vielen Dank für alles.' In dem Moment kriegst du ein schlechtes Gewissen. Die Mama geht aber an dir vorbei und lässt eine Bemerkung los. Das ist auch verständlich, weil wir alle Menschen sind und keiner gesteht sich gerne eine Niederlage ein. Aber es darf keine Niederlage sein in dem Moment für den Jungen. Das ist das Problem, dass es im Vorfeld falsch erkannt wird. Es ist nicht schlimm, wenn es irgendwo nicht weitergeht, nur die wenigsten schaffen es nach oben. Aber die Eltern wollen das nicht einsehen.

SPOX: Holger Badstuber meinte zuletzt, die junge Generation sei zu bequem und haue sich nicht voll rein. Diese Kritik wirkt in diesem Zusammenhang überraschend, da er selbst dieses System beim FC Bayern durchlaufen hat.

Dremmler: Ich kann nicht genau beurteilen, wie Holger das gemeint hat. Aber es gibt eine Frage, die wir uns immer wieder stellen: Wo ist der Charakter geblieben? Wo ist das Endgültige, etwas wirklich schaffen zu wollen? Um das zu veranschaulichen, muss ich nochmal kurz in meine Spielerzeit zurückgehen.

SPOX: Bitte.

Dremmler: Paul Breitner war ein echter Leader. Wenn du einen schlechten Pass gespielt hast, hat er nicht den Daumen hoch genommen, sondern dich zusammengeschissen, dass es jeder der 70.000 Zuschauer im Stadion hören konnte. Bei einem so polarisierenden Menschen wie Paul Breitner hast du gewusst, dass Schicht im Schacht war. Das fehlt mir manchmal. Vielleicht haben wir gerade nicht so viele Leader und die Spieler sind ein Stück weit zu gleich. Vielleicht hat Holger das gemeint. Die Jungs trainieren die ganze Woche, nehmen das ganze Paket auf sich, dann stehen sie am Wochenende auf dem Platz, haben das richtige Trikot an und sagen auf einmal: 'Heute ist's aber schwer, heute geht's komischerweise nicht.' Diese Mentalität, alles zu tun, zu kämpfen, fehlt uns ein Stück weit in unseren Mannschaften. Dieser Kritik müssen wir uns stellen und wir müssen schauen, dass wir das wieder hinbekommen.

SPOX: Wie fördert man Mentalität?

Dremmler: Da ist der Trainerstab gefragt, auch mal die Hand um die Schulter legen und danach wieder einen zwischen die Hörner zu hauen. Und man muss hoffen, die richtige Mischung in der Mannschaft zu haben. Wenn einer diese Führungsqualität in der Mannschaft hat, muss man ihn unterstützen.

SPOX: Oder von einem anderen Verein holen.

Dremmler: Aber zu hundert Prozent. Warum auch nicht? Das ist legitim. Dafür sind unsere Scouts ausgebildet.

SPOX: Also macht Ihnen die Kritik an diesem Verhalten aus Augsburg oder Fürth nichts aus?

Dremmler: Wir haben auch schon zu Augsburg einen Spieler abgegeben, aber darüber redet keiner. Das ist der Gang der Dinge. Sich zu beklagen, ist nicht angemessen.

SPOX: Fußball ist demnach auch im Jugendbereich nichts anderes als ein Markt?

Dremmler: Was soll es denn sonst sein? Wenn Bayern München heute einen Spieler braucht, schaut es in die Jugend und gibt es diesen Spielern nicht, geht es raus und holt sich diesen Spieler. So wie es alle anderen Klubs in Deutschland und Europa auch machen. Es gibt keinen Unterschied. Wir fischen alle im gleichen Gewässer. Man nimmt sich die Bausteine, die man braucht.

SPOX: Sie und Karl-Heinz Rummenigge haben gesagt, der FC Bayern wolle aggressiver am Markt auftreten. Was muss man sich konkret darunter vorstellen?

Dremmler: Das Wort aggressiv mag ich eigentlich nicht, aber es geht in dem Fall nicht um eine Person, sondern um den Markt. Der FC Bayern ist ein Branchenführer und da haben wir das Recht und die Pflicht, den Markt zu analysieren und nach Spielern zu suchen, die uns weiterbringen und den Sprung in den Lizenzspielerbereich schaffen können. Diese Talente müssen wir rechtzeitig zu Bayern holen, um ihnen den letzten Schliff zu geben, die Ideologie des Klubs zu erklären und zu zeigen, was hinter dem großen Begriff Mia san Mia steckt. Der Anstoß dazu kam von Uli Hoeneß.

SPOX: Trotzdem hat es sich der FC Bayern auf die Fahne geschrieben, den bayerischen Raum wieder stärker in den Fokus zu rücken. Wie passt das zusammen?

Dremmler: Den bayerischen Raum hatten wir schon immer im Blick. Wir haben aktuell einen Fahrservice mit neun Bussen, der 70 Spieler transportiert. Wir wollen aber weiterhin vorsichtig bleiben und keine Spieler mit zehn, elf oder zwölf Jahren holen. Die angesprochene Aggressivität am Markt bezieht sich auf Spieler für das Jugendhaus ab der U15. Mit dem neuen Nachwuchsleistungszentrum haben wir ein großes Pfund gegen die anderen Klubs dieser Welt in der Hand.

SPOX: In welchen Bereichen erwarten Sie Fortschritte durch das NLZ?

Dremmler: Mit einem Wort: Infrastruktur. Wir werden endlich Platz haben und müssen nicht mehr mit allen unseren Mannschaften auf zweieinhalb Plätzen trainieren. Das haben wir jetzt 20 Jahre lang gemacht und das reicht auch. Das NLZ ist der Ritterschlag für den FC Bayern. Ich bin nicht jeden Tag, aber relativ oft auf der Baustelle. Zu sehen, wie das Projekt vorankommt und wie es umgesetzt wird, ist großartig. Ich freue mich wahnsinnig darauf. Damit stellt der Klub in Europa endlich auch für die Jugend das dar, was wir bisher nur durch Spieler wie Lahm, Schweinsteiger oder Müller geschafft haben.

SPOX: Steigt mit dem NLZ auch der Druck auf Ihre Abteilung, mehr Spieler für die erste Mannschaft zu entwickeln?

Dremmler: Uli Hoeneß hat mir mal gesagt: 'Wolfgang, wenn ihr mehr Spieler im Jugendhaus habt, müsst ihr auch mehr Spieler für die Profi-Mannschaft liefern.' Aber so einfach ist das nicht. Wir stocken zwar von 15 auf 35 Spieler auf, aber das heißt nicht, dass wir auch doppelt so viele Spieler rausbringen.

SPOX: Karl-Heinz Rummenigge meinte, Hoeneß habe während seiner Tätigkeit als Freigänger "frischen Wind" in die Jugendabteilug gebracht. Wie sah dieser aus?

Dremmler: Wenn wir über neue Talente reden, was muss man da in die Hand nehmen?

SPOX: Geld.

Dremmler: Dankeschön. In diesem Bereich war Uli Hoeneß ein großer Faktor, er ist wertvoll ohne Ende. Wir haben schon immer viele Namen diskutiert, von Levin Öztunali bis Lennart Grill, aber die Transferentschädigungen waren mächtig, so dass wir davon Abstand genommen haben. Das ist jetzt anders. Uli Hoeneß hat gesagt: Wenn ihr von einem Spieler überzeugt seid, holt ihn. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass unsere U19 und U17 wieder an der Säbener Straße spielen können und nicht in Heimstetten oder Aschheim. Am Trainingsgelände wurde sogar ein Flutlichtmast versetzt. Das ist die Schubkraft eines Uli Hoeneß. Mit diesem Mut und diesem Einfluss hat er seit 1979 seinen Fingerprint beim FC Bayern gesetzt. Dementsprechend können wir uns bei Uli Hoeneß und dem ganzen Vorstand bedanken. Sonst hat es keinen frischen Wind gegeben, der war auch gar nicht notwendig.


Quelle: spox.com


Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.
Alexander Freiherr von Humboldt (1769 - 1859)