Teil 1

Vorschau: Atlético Madrid – FC Bayern München

Wenige Zentimeter beim Schuss von David Alaba im Hinspiel. Ein Elfmeter von Thomas Müller und der individuelle Fehler von Jérôme Boateng im Rückspiel. Das Champions-League-Halbfinale der vergangenen Saison lässt sich aus Münchner Sicht durchaus auf wenige, unglückliche Szenen reduzieren. Nun kommt es zum Wiedersehen mit Atlético Madrid.




Während sich beim Gegenüber so gut wie nichts verändert hat, steckt der FC Bayern im spielerischen Wandel. Gegen die Elf von Diego Simeone werden Ancelottis Neuerungen erstmals auf aller höchstem Niveau gefordert.

Spielvorschau

Das Zentrum als komplizierter Schlüssel

Trainer Diego Simeone zählt zurecht zu den besten der Welt. Er hat mit seiner Mannschaft in den letzten Jahren nicht nur große Erfolge gefeiert, sondern vor allem auf taktischer Ebene ein System perfektioniert, das Atlético zur vielleicht unangenehmsten Mannschaft Europas macht. Im 4-4-2 stehen die Spanier gegen den Ball nicht nur kompakt, sondern so sauber gestaffelt, dass es fast unmöglich ist das Zentrum zu kontrollieren. Sie lenken ihre Gegner geschickt auf die Außenbahn und stellen ihm dort Pressingfallen, um bei Ballgewinnen schnell in die Spitze zu kommen.



Das aktuellste Beispiel stammt aus dem Spiel gegen den FC Barcelona. Atlético erarbeitete sich ein 1:1 im Camp Nou. Die Passmap von Barca zeigt, dass sie keine großartige Kontrolle über das Zentrum erlangen konnten. Selbst die wohl beste Mannschaft Europas hatte dort keinen Zugriff und sah sich gezwungen über die Außen zu attackieren. Wenn man dort so hohe individuelle Klasse wie Barcelona besitzt, dann hat man auch über die Flügel die Chance diese Defensive zu knacken. Dafür braucht es aber schnelle Verlagerungen um die Eins-gegen-Eins-Spieler zu isolieren.
Hat man diese Qualität auf der Außenbahn nicht, kann es alternativ auch mit Überladungen gehen. Allerdings ist Atlético so geschickt in der Positionierung, dass es schwer ist Überzahlsituationen zu kreieren. Bayern zeigte jedoch vor allem im Rückspiel der vergangenen Saison wie es gehen kann. Ständige Seitenverlagerungen, viel Tempo im Spiel und überall auf dem Feld Dreiecke. Hinzu kam das extrem effektive Gegenpressing des deutschen Rekordmeisters, das der Simeone-Elf fast keine Möglichkeit zum Konter bot.



Auch Bayerns Passmap aus dem Halbfinal-Rückspiel sagt einiges über die hohe Qualität des nächsten Gegners aus. Dennoch schafften es die Münchner Wege ins Zentrum zu finden und dort das Spiel mit dem Ball zu kontrollieren. Xabi Alonso erwischte damals speziell in Ballbesitz, aber auch im Gegenpressing einen großartigen Tag. Derzeit übernimmt diese Rolle im FCB-Spiel aber Thiago und er macht das ebenso gut. Der 25-Jährige hat zudem einen großen Vorteil gegenüber Alonso, denn er ist auch unter Druck in der Lage das Spiel vertikal zu eröffnen.
Es wird in dieser wichtigen Zone eine Entscheidung zwischen Alonso und Kimmich fallen. Spielt der Spanier, dürfte Thiago auf die Acht rücken. Ob nun auf der Acht oder als Sechser, Thiago wird eine tragende Rolle in Madrid zukommen. Er ist derzeit der wichtigste Spieler im Zentrum. Seine Verlagerungen und das Auflösen von Pressingfallen sind essenziell für die Bayern. Spielt Thiago gut, wäre das ein wichtiger Schritt für die Bayern. Vidal scheint ebenfalls gesetzt zu sein. Der Chilene bringt die nötige Aggressivität gegen den Ball mit. Die braucht es, um das schnelle Umschaltspiel Atléticos zu verhindern.
Auch Joshua Kimmich wusste zuletzt auf der Acht sehr zu überzeugen. Er ist nicht nur im Passspiel extrem sicher, sondern sorgt darüber hinaus für zuletzt eher fehlenden Offensivdrang in der Zentrale. Immer wieder dringt er klug in den Zehnerraum ein und unterstützt dort die Angreifer, wenn es die Situation hergibt. Mit ihm auf dem Feld würde Thiago wieder die Sechs bekleiden. Da Alonso aber zuletzt nicht zum Einsatz kam, scheint der Spanier den Vorzug zu erhalten. Wie auch immer die Besetzung sein wird, die drei von Ancelotti präferierten Spieler müssen im Zentrum für Kontrolle sorgen. Mit und ohne Ball.

Wie verhindert Bayern das gefährliche Umschaltspiel?

Doch wäre die Mannschaft von Diego Simeone nicht so einzigartig und unangenehm, wenn das die einzige Herausforderung gegen sie wäre. Ballverluste lassen sich nicht vermeiden und somit wird es auch wieder Umschaltmomente für den Bayern-Gegner geben. Über das extrem spielstarke Mittelfeldtrio, bestehend aus Koke, Gabi und Saul, sollen die Bälle schnell in die Spitze gebracht werden, wo mit Griezmann, Carrasco und Gameiro ebenfalls absolute Weltklasse wartet. Auch Torres und Correa sind hier Alternativen, die nicht wirklich schlechter sind. Griezmann ist natürlich herauszuheben. Der Franzose bringt alles mit und wird im Kollektiv mit den anderen Angreifern die Verteidigung des FC Bayern fordern.
Im letzten Aufeinandertreffen lösten die Münchner diese Problematik mit dem Guardiola-typischen Gegenpressing. Und sie lösten es gut. Beide Gegentore fielen vor allem nach individuellen Fehlern der Bayern. Im Hinspiel zog niemand das taktische Foul gegen Saul und beim Tor von Griezmann war es ein unnötiges Herausrücken von Jérôme Boateng, das dem Franzosen den Weg zum Tor frei machte. Diese Unaufmerksamkeiten sollten natürlich nicht passieren.


Antoine Griezmann entschied mit seinem Auswärtstor das Halbfinal-Duell in der vergangenen Saison.
(Foto: Guenter Schiffmann / AFP / Getty Images)


Das Spiel wird aber allgemein ein anderes gegen den Ball. Ancelotti setzt nicht mehr auf dieses unglaublich offensive Gegenpressing. Bayern wird bei Ballverlusten schnell in die Rückwärtsbewegung gehen und dann aus einer kompakten Defensive agieren. Das wird Atlético auch die ein oder andere Ballbesitzphase geben. Auf dem Papier gibt es dann für den FC Bayern eigene Umschaltmomente, die sie clever ausspielen müssen.
Die größte Problematik ist hier aber die Disziplin. Zuletzt machten die Münchner ohne Ball einfache Fehler. Gerade auswärts ließen sie sich immer wieder zu schlechter Ordnung hinreißen, indem ein oder zwei Akteure aus der Formation rückten. Thiago und Vidal sind zwei Spielertypen, die immer wieder aggressiv auf den Gegner gehen. Rücken allerdings beide aus dem Mittelfeld heraus, entstehen hinter ihnen Lücken, die auf hohem Niveau gut bespielt werden können. Bayern ist manchmal noch zwischen Pep’schem Gegenpressing und der Carletto-Ordnung. Diese Momente gilt es in Madrid zu reduzieren, sonst ist das spielstarke Zentrum des Gegners schnell hinter der Abwehr.
Natürlich muss der FC Bayern aktiv verteidigen und darf sich nicht zu passiv fallen lassen, aber wenn man mit einem Mittelfeldpressing spielt, ist das Timing dieser herausrückenden Attacken wichtig. Nur wenn der fünfmalige Champions-League-Sieger im Zentrum kompakt und clever verteidigt, bietet sich auch die ein oder andere Umschaltaktion. Hier ist die Geduld der Spieler gefragt. Im richtigen Moment zupacken und die gestellten Fallen mit gnadenloser Effektivität zu nutzen ist etwas, was Diego Simeone und die Rojiblancos nahezu perfekt umsetzen können. Wie gut können das die Bayern, wenn sie sich mal fallen lassen?

Struktur, Dreiecke und Durchschlagskraft

Besonders häufig wird Ancelottis Team ohnehin nicht kontern können. Daher wird es sehr auf die Struktur im Ballbesitz ankommen. Um Atléticos kompakte Formation auseinander zu ziehen, braucht es nicht nur Breite im Spiel, sondern auch eine saubere Raumbesetzung und viele schnelle Seitenverlagerungen. Simeones 4-4-2 muss ständig in Bewegung sein. Nur dann können sich beim gut gestaffelten Gegner Lücken auftun. Ribéry ist aktuell in absoluter Topverfassung. Es wäre also durchaus eine clevere Option, wenn der FCB die rechte Seite überläd, um dann beispielsweise über Thiago die schnelle Verlagerung auf den Franzosen zu suchen.
Atlético wird an der Außenlinie immer wieder Druck ausüben. Schaffen es die Münchner diese Situationen aufzulösen, gibt es auch Räume. Gegen Hamburg bespielten sie diese zu selten. Um sich aus den Pressingfallen des Gegners zu befreien, braucht es Anspielstationen in den Halben. Kreiert man hier genügend Dreiecke, so ist auch die Qualität im Passspiel hoch genug, um sich zu befreien.
Das vertikale Spiel der Bayern wird auch am Mittwoch wieder ein wichtiger Punkt werden. Zum Einen gilt es natürlich Durchschlagskraft zu erzeugen und dafür braucht es eine gewisse Vertikalität im Passspiel. Auf der anderen Seite hat sich die Mannschaft zuletzt aber auch immer wieder mal übernommen. Es ist ein Tanz auf der Rasierklinge und der Rekordmeister benötigt eine konzentrierte und fluide Ballzirkulation mit einem Minimum an Ballverlusten.

Wie stark ist der FC Bayern im Moment wirklich?

Diese Frage wird sich nun beantworten. Ancelottis System offenbarte gerade auswärts zuletzt immer wieder kleinere Unsicherheiten und ungewohnte Kontrollverluste, aber es war erfolgreich. Im Vicente Calderón wird sich der neue Bayern-Trainer nun einer der größten Aufgaben im europäischen Vereinsfußball stellen. Kann seine Mannschaft mit guter Struktur das Zentrum kontrollieren? Werden die Münchner durchschlagskräftig genug sein? Wie gut werden sie bei Ballverlusten auf die Umschaltaktionen des Gegners reagieren? Diese Kernfragen werden über den Ausgang der Partie entscheiden und am Ende wird der Status Quo des Teams klar erkennbar sein.


Quelle: miasanrot.de


Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.
Alexander Freiherr von Humboldt (1769 - 1859)