Zerrung? Platzwunde? Offener Bruch? Eisspray!

Ich spiele Fußball. Seit über 30 Jahren kämpfe ich auf Berlins Plätzen. Zum Glück verletzungsfrei, denn die medizinische Versorgung ist lausig und ab Herbst quasi nicht mehr vorhanden. Nur Finalgon geht niemals aus.

Es kam nicht oft vor, passierte aber dann doch das eine oder andere Mal. Ich bin schneller als mein Gegenspieler. Was das bedeutet, bekomme ich nur drei Sekunden nachdem ich ihn habe aussteigen lassen und einen vermeintlichen Sprint anziehe, zu spüren. Er hechelt in einem Schneckenrennen hinter mir her und senst mich von hinten um.

Ein Tritt gegen den Knöchel, ich komme ins Stolpern und klatsche auf den Kunstrasen. Der Schiedsrichter pfeift Foul und winkt hektisch an die Seitenlinie. Das klare Zeichen, dass der Physio auf den Platz kommen kann, um Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten. So hektisch der Schiedsrichter ist, so entspannt sind die Reaktionen an der Seitenlinie.

Niemand eilt auf den Platz, um eine erste Diagnose zu stellen und mich wieder spielfähig zu machen. Warum? Weil natürlich kein Physio da ist. Unterhalb der Verbandsliga gibt es die so oft wie technisch sauberen Fußball oder einen vierten Offiziellen.

Die Ersatzspieler schauen sich gegenseitig an oder starren auf den weißen Kasten von Derbystar, der die Gelpacks und Eiswürfel kalt halten soll. Nach einer Ansage des Trainers erbarmt sich endlich einer, schnappt sich den Kasten und trabt quer über den Platz zu mir. Da bereits zehn Minuten gespielt sind, ist von den Eiswürfeln natürlich nicht mehr viel übrig, und die blauen Kügelchen in den Gelpacks haben auch schon Zimmertemperatur.

Aus den Derbystar-Poren schwappt das nicht mehr ganz so kühle Wasser auf den Platz. „Wo hat er dich denn getroffen?“ „Rechter Knöchel!“ Und zack, habe ich einen Schwamm, der uns bestimmt seit acht Saisons als medizinisches Gerät dient, auf meinem Fuß. Der Ersatztorwart drückt gegen ihn. Das Ergebnis: lauwarmes Wasser sickert in meinen Schuh. Die Schmerzen sind zwar nicht gelindert, dafür ist mein Stutzen klatschnass.

Eisspray in die offene Wunde
Ich spiele trotzdem heldenhaft weiter. In dem gefährlichen Wissen, dass der Schwamm im Amateurfußball fast das Maximum an medizinischer Versorgung ist. Fast! Das höchste der Gefühle ist hingegen das Eisspray. Die weiße Dose im ledernen Medizinkoffer dient als Allheilmittel. Offener Bruch des Unterschenkels? Eisspray rauf. Eine Platzwunde nach einem Kopfballduell über dem Auge? Erst einmal einnebeln. Ein Muskelfaserriss? Stell dich nicht so an, mit Eisspray wird das schon.

Die Benutzung des kühlenden Sprays bringt viele Tücken mit sich. Wenn ich mir nicht schon die Knie und Oberschenkel bei Grätschen auf dem trockenen Kunstrasen verbrannt habe, geschieht dies in unschöner Regelmäßigkeit durch die unsachgemäße Verwendung des Eissprays.

Irgendein Trottel findet sich immer, der sich nicht an die Bedienungsanleitung hält und die Nebelkanone aus Nahdistanz abfeuert. Drei statt der empfohlenen 30 Zentimeter machen da einen schmerzhaften Unterschied. Die Verbrennungen auf der Haut lenken dann wenigstens von den eigentlichen Schmerzen ab. Besonders schön wird es immer, wenn die Knie nach einer Grätsche schon blutig sind …

So ab dem zehnten Spieltag haben sich die Probleme mit dem Eisspray meist eh erledigt. Unser Medizinkoffer leidet stets schon im ersten Drittel der Saison unter einem Schwund. Ist er zu Beginn der neuen Spielzeit noch mit Tape, Dextroenergen-Traubenzucker und Pferdesalbe bestückt, ist er spätestens im Herbst fast leer. Das teure Tape war nach dem zweiten Spieltag aufgebraucht, weil die ach so edlen Techniker aus dem Mittelfeld damit die Stutzen fixierten und ihre Ringe abklebten.

China-Öl und Finalgon als Allheilmittel
Der Traubenzucker wird auch nie nachgefüllt, weil aus der Mannschaftskasse lieber andere Nahrung besorgt wurde. Die hat auch Kalorien, ist aber flüssig und für die Zeit direkt nach dem Spiel vorgesehen. Spätestens ab Oktober nimmt dann auch der Vorrat an China-Öl dramatisch ab. Jeder, der in den Tagen vor dem Spiel auch nur einmal geniest hatte, tränkt vor dem Anpfiff sein Trikot mit der beißenden Flüssigkeit – Berliner Amateurplätze im Herbst und Winter riechen wie ein Reformhaus in den Achtzigern.

Eine Medizin aber geht nie aus – Finalgon. Auch, weil sie fast jeder Spieler selbst mit zum Spiel mitbringt. Ohne den Amateurfußball, besonders im Seniorenbereich, hätte die Firma, die die Hitzesalbe herstellt, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten Insolvenz anmelden müssen. Die weiße Salbe, natürlich die extra starke Version, kreist vor jedem Spiel durch die Kabine. Begleitet von der ewigen Frage: Hat jemand ein Taschentuch?

Finalgon verspricht durch eine bessere Durchblutung Muskelentspannung und Schmerzlinderung. Das Ergebnis ist schon immer nach fünf Minuten beim Warmmachen zu sehen. Dort wo die Salbe aufgetragen wurde, färbt sich die Haut feuerrot. In Wahrheit entfaltet das Zeug aber eigentlich immer erst nach dem Duschen seine volle Wirkung. Dann, wenn man wieder Jeans und Pullover angezogen hat. Es brennt dann immer noch stundenlang, ungefähr bis zum Ende des „Tatorts“ am Sonntagabend.

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