Die Leihwerkself

Wenn es um weitsichtige Kaderplanung geht, ist Leverkusen schon Spitze. Elf Spieler sind aktuell an andere Bundesligisten abgestellt. Ein Geschäft mit Systematik. Zuständig für die Leihspieler ist Dirk Kunert – als sogenannter Ado-Lizenz-Trainer.

Stefan Reinartz spannte die Arme aus, spähte über die linke Schulter zurück. Da kam nur niemand. Deniz Naki war stehen geblieben, griff sich ins Haar, schüttelte den Kopf. Rechts hatte der kleine Derwisch vom FC St. Pauli den Ball am Innenverteidiger vorbeilegen wollen, aber nicht mit dessen Antrittsschnelligkeit gerechnet. Und so ließ Reinartz, der mit Partner Daniel Schwaab einmal mehr den jungspundigen Abwehrblock bildete, das Leder routiniert ins Toraus rollen.

Die Szene war nicht spektakulär. Im TV-Zusammenschnitt der regionalen Sender tauchte sie später nicht auf, andere Momente des Sonntagsspiels nahmen sich spannender aus. Stefan Kießlings Tor etwa, oder der Treffer zum entscheidenden 2:1 durch Lars Bender. Und doch war diese 62. Minute wichtig, denn sie belegt den erstaunlichen Reifeprozess des Stefan Reinartz bei Bayer Leverkusen, aber auch beim 1. FC Nürnberg. Zur Rückrunde der Saison 2008/09 wurde der U-19-Europameister ausgeliehen ins Frankenland. In der Dokumentation »Hauptsache Fußball – Junge Profis auf dem Weg ins Spiel« sagt er: »Für mich war Nürnberg der Schlüsselmoment. Die Erfahrung war wichtig, mich in einem neuen Umfeld zu beweisen, Spielpraxis zu sammeln. Ich bin Schritt für Schritt gegangen.« Schritt für Schritt auf einem Weg, den Bayer Leverkusen am liebsten viele Junioren gehen sehen würde. Die Werkself betreibt eine systematische Leihpolitik, und Reinartz ist ihr leuchtendes Aushängeschild.

Zu große Lücke zwischen 1. und 4. Liga

Elf Spieler sind aktuell fernab der BayArena unterwegs, um Einsatzminuten abzugreifen. Mehr, als jeder andere Bundesligist entsendet. Drei davon tummeln sich im Unterhaus, acht in der höchsten deutschen Spielklasse. Man könnte meinen, Leverkusen nähre die direkte Konkurrenz. Denn eine Regelung, die – wie beispielsweise in der englischen Premier League üblich – die Leihen zum Aussetzen gegen den Heimverein zwingt, existiert nicht im deutschen Vertragswerk. Nicht schlimm, sagt man beim Tabellenzweiten. Die Wettbewerbssituation ist gewollt und kalkuliert. »Unsere Spieler sammeln Wettbewerbserfahrung auf Profiebene«, erklärt Michael Reschke, »weil der Kader sehr breit und qualitativ gut aufgestellt, sollen sie durch Ausleihe deutlich besser gefördert werden, als dies in unserer zweiten Mannschaft möglich ist.« Die Bayer-Reserve tritt in der Regionalliga West an, misst sich mit so illustren Teams wie dem SC Wiedenbrück oder auch den Sportfreunden aus Lotte. Seit der Ligareform klafft eine qualitative Lücke zwischen Bundesliga und 4. Liga, die den Bossen im Rheinland schlicht zu groß ist.

Michael Reschke ist verantwortlich für die Leverkusener Kaderplanung. Die Vereinspolitik macht ihn stolz. Das Leihsystem in seiner heutigen Form entstand vor knapp vier Jahren. Unter Michael Skibbe war man zweimal in Folge im Viertelfinale des UEFA-Cups gescheitert, es bedurfte neuer Impulse. Reschke setzte sich mit Sportdirektor Rudi Völler und Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser zusammen. Der Gedanke: Die Talente durchlaufen alle Jugendmannschaften und werden dann, sollte es im ersten Profijahr noch nicht für den Ligakader reichen, verliehen. Ein Jahr, maximal zwei. Zurück kehren die Ausgezogenen idealerweise gereift, gestählt, kurz: bereit. Reschke erklärt: »Jeder kann sich ausleihen lassen. Gleichzeitig wird niemand gegen seinen Willen verliehen.« Ein Grundsatz, der auch den Vorwurf vom Spielermaterial, das beliebig hin- und hergeschoben wird, konterkariert.

Es sind aber nicht nur noble Erklärungen, die Leverkusen auszeichnen. Seit Saisonbeginn kümmert sich Dirk Kunert explizit um die Kicker in der Fremde. Als Ado-Lizenz-Trainer, so seine offizielle Bezeichnung, bekleidet der 43-Jährige einen einmaligen Posten. Einmalig, weil kein anderer Ligaverein eine Nanny für die stille Reserve abstellt. »Viele Klubs haben schon Interesse gezeigt«, berichtet er. »Die ziehen sicherlich bald nach.« Er plant das kommende Wochenende, überträgt Termine in sein schlaues Buch. Am Samstag Betzenberg, der 1. FC Kaiserslautern gegen den 1. FC Nürnberg. Kunert schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Jens Hegeler wirbelt für die Hecking-Elf durch das zentrale Mittelfeld und wird dort auf den Griechen Thanos Petsos treffen. Beide sind ausgeliehen, Hegeler sogar noch bis 2012. Ihm durchkreuzte der Ballack-Deal die Karrierepläne.

Dirk Kunert wird früh in die Pfalz reisen. Am Donnerstag guckt er Lauterns Coach Marco Kurz beim Training über die Schulter, freitags geht es mit Petsos ins Restaurant. Essen, plaudern. Kunert versteht sich als Freund der Kicker, er will nicht nur über sportliche Belange reden. Der Spieler fühlt sich gebraucht statt geparkt, umsorgt statt vergessen. Kein schwarzes Schaf der Bayer-Familie, nein – ein urlaubender Verwandter, dessen Rückkehr eine Frage der Zeit ist. Das negative Stigma der Ausleihe fällt weg. Kunert zehrt auch von seiner Trainer-Ausbildung, bringt die Erfahrung aus elf Jahren Nachwuchsarbeit bei Hertha BSC ein. Seine Kandidaten kriegen DVDs der letzten Spiele, unter vier Augen werden starke wie schwache Szenen analysiert. »Wir wollen die Jungs besser machen«, berlinert der Vielreisende. Aus einem umfangreichen Kontaktprotokoll entwächst am Saisonende die Entscheidung über den Entwicklungsstand. Ist ein Bastian Oczipka schon weit genug, um sich auf dem linken Abwehrflügel mit Michal Kadlec zu messen? Kann Marcel Risse die Rechtsverteidiger Hanno Balitsch und Gonzalo Castro gefährden?

Win-Win-Win-Situation

Mit dem Ado-Lizenz-Trainer schafft Leverkusen einen Posten, der überfällig ist. Auch angesichts finanzieller Engpässe müssen und werden die Vereine zusehends auf Leihgaben setzen. Derzeit sind 24 davon in der 1. Liga unterwegs. Welchen Schub eine Ausleihe verspricht, bewies der 1. FC Kaiserslautern zuletzt mit dem Aufstieg. Sechs Leihgaben halfen beim Sprung nach oben. Kunert jettet derweil am Sonntag weiter nach München. Da gastiert sein Arbeitgeber beim Rekordmeister. Er braucht den direkten Vergleich, um die Eindrücke des Vortages einordnen zu können. In der Allianz Arena wird Kunert dann auch Stefan Reinartz sehen, wie er sich gegen Tormaschine Mario Gómez zu behaupten sucht. Man kennt sich mittlerweile aus der Nationalmannschaft. Am 13. Mai 2010 debütierte der Innenverteidiger gegen Malta unter Jogi Löw. Schritt für Schritt. Reinartz ist den Weg zu Ende gegangen.

Quelle

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