Mit völlig falschen Hoffnungen gehen die Anhänger des Hamburger SV ins erste Spiel der Saison - und landen anschließend unsanft auf dem Boden der Tatsachen.

KOLUMNE
Von Daniel Jovanov

"Eine absolute Frechheit. Da hat sich überhaupt nichts geändert", schimpfte ein großgewachsener, im pinken Trikot gekleideter Fan nach dem 1:1 des Hamburger SV gegen den FC Ingolstadt. Selbst über eine Stunde nach Schlusspfiff hatte sich sein Zorn noch nicht wirklich legen wollen. Ich hätte ihm zwar erklären können, dass er sich hat täuschen lassen von all den positiv überzeichneten Berichten im Sommer, die völlig falsche Erwartungen geweckt haben; dass die Testspiele und der Auftritt in Zwickau erahnen ließen, wie es weiter gehen würde. Und dass es vor jeder Saison derselbe Trick ist, auf den er reinfällt.

Doch zu seiner Verteidigung muss ich anmerken, dass sich in diesem Sommer mehr als gewöhnlich getan hat, was die Fan-Herzen höher schlagen ließ. Da war zum einen der neue Kühne-Deal, der viele Millionen und neue Spieler versprach, an dem die Optimisten partout nichts finden konnten, was zu hinterfragen oder zu kritisieren wäre. Dabei steckt hinter diesem Deal weitaus mehr, zum Beispiel die Teilentmachtung des Vorstandes. Diesem ist es in den letzten zwei Jahren gelungen, den HSV finanziell derart an die Wand zu fahren, dass ohne Kühne schon bald der Insolvenzverwalter vor der Tür stehen würde. Deshalb ging er ihn ein.

Der alte Frust am HSV

In Hamburg wurde das aber von vielen Seiten komplett anders gedeutet. Kühne verdiene Respekt für sein großzügiges Engagement. Dass dafür Peter Knäbel geopfert werden musste - who cares? Es sei außerdem völlig normal, sich mit Spielerberater Volker Struth einen Experten an die Seite zu holen. Es hat sich aber kaum einer die Frage gestellt, warum ausgerechnet die Expertise eines Externen gefragt ist, wenn im Klub selbst doch so viel Geld für Fußballsachverstand ausgegeben wird. Es hat sich kaum einer gefragt, ob diese Rechnung - der HSV zahlt Kühne im Falle des Erreichens eines europäischen Wettbewerbes das Geld zurück - überhaupt aufgehen kann. Oder doch die totale Abhänigkeit bedeutet, aus der es nie wieder ein Zurück gibt.

Es gab da auch noch das Richtfest des HSV-Campus, das eine völlig neue Zeitrechnung einläuten sollte. Eine Zeit, in der ein Riesen-Talent nach dem anderen herangezüchtet und später für 40, 50 oder 80 Millionen verkauft wird. So wie auf Schalke zum Beispiel. Und es gab da noch ein paar Testspiele gegen Dorfklubs, in denen sich Sven Schipplock zum Torjäger verwandelte - begleitet von Jubelmeldungen aus allen Himmelsrichtungen. "Man hat den Eindruck, wir sind auf dem direkten Wege Richtung Champions League", schrieb mir ein alter Bekannter kurz vor dem Start in die neue Saison. So oder so ähnlich müssen ziemlich viele Besucher vor dem Duell mit Ingolstadt gedacht haben.

Aus der "neuen Lust am HSV" ist aber nach nur einem (!) Spiel, das nicht einmal verloren ging, der alte Frust am HSV geworden. Die Pfiffe nach Spielende - da muss ich vielen widersprechen - haben sich nicht nur gegen den Schiedsrichter gerichtet. Nein, das war ein deutliches Zeichen an alle Verantwortlichen. Nach zwei Jahren und Investitionen von über 80 Millionen (!!) Euro in den Kader wollen die Fans endlich Fortschritte sehen: Kombinationen, Angriffe, schöne Tore. Was der HSV ihnen bot? Ein paar Flanken in den Strafraum, obwohl da niemand stand. Und einen einzigen Schuss aufs Tor in 90 Minuten. Einen einzigen. Gegen den FC Ingolstadt. Da schließt sich berechtigerweise die Frage an: Wenn der HSV nicht einmal gegen Ingolstadt in einem Heimspiel (!!!) zu dominieren in der Lage ist, wann sonst? Nie?

Bereit machen für Abstiegskampf?

Kein Wunder, dass die Arbeit von Trainer Bruno Labbadia nach acht Wochen Vorbereitung hinterfragt wird. Der wiederum versucht nun die Erwartungen zu drosseln, um Zeit sowie Vertrauen zu werben und auf Missstände in der Kaderplanung hinzuweisen. Nicht direkt, versteht sich. Aber seine Aussagen über Neuverpflichtungen aus Brasilien zu einem so späten Zeitpunkt (er hätte lieber einen Deutschen), während Vorstandsboss Dietmar Beiersdorfer gerade in Brasilien nach Verstärkungen scoutete, war eine unmissverständliche Botschaft. Wir sind zu spät dran, das geht nicht gut, wollte er damit sagen.

Labbadia sprach vor der Saison auch von "dringend" benötigten Verstärkungen und bekam mit Filip Kostic bislang im Grunde nur einen einzigen Spieler, der sofort eine Verbesserung darstellt. Bei Bobby Wood und Alen Halilovic muss man trotz ihrer Tore noch ein wenig abwarten, wie sie mit der Bundesliga klar kommen. Aber die Offensive ist nicht das entscheidende Problem, sondern die Frage, wie der Ball ins letzte Drittel des Feldes kommt. Was ist zum Beispiel mit einem neuen Außenverteidiger? Einem Innenverteidiger, der Spielaufbau kann? Einem Sechser, der weitaus pressingresistenter ist als Lewis Holtby oder Albin Ekdal? Oder wird alles besser, wenn die beiden wieder zurückkehren?

Fakt ist: Die Transferperiode endet morgen und eigentlich müsste der HSV noch zwei oder drei Spieler holen, will er den Erwartungen des Publikums und seinen eigenen gerecht werden. Dass es im Kader noch so viele eklatante Baustellen gibt, spricht nicht unbedingt für die Transferpolitik der letzten beiden Jahre. Gelingt es Beiersdorfer nicht, diese kurzfristig zu schließen, bekommt Labbadia massive Probleme. Vorsorglich weist er deshalb darauf hin, ab wann in dieser Saison der Abstiegskampf beginnt: Platz Acht oder Neun. Was nichts anderes bedeuten soll, als dass der HSV sich auf ein weiteres Jahr Abstiegskampf einstellen muss. Ein weiteres Jahr Zittern um die Existenz werden die Fans aber nicht mehr tolerieren. Die Geduld ist am Ende.

https://www.goal.com/de/news/1025/kolumne/2016/08/30/27002282/jovanovs-hsv-die-geduld-ist-am-ende


Ich muss gestehen, dass ich Anfangs nicht viel von Jovanov gehalten habe. Er hat unter anderem damals sehr viel Werbung für die katastrophale Fehlentscheidung HSV Plus gemacht. Immerhin realisiert er auch langsam, was für einen Bock man sich damit geschossen hat. Das muss man ihm anrechnen und in diesem Beitrag sagt er viel Richtiges.


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