Die hanseatische Bananenrepublik
Längst hat der Bundesliga-Dinosaurier die Rolle der Skandalnudel übernommen. Beim Hamburger SV geht es drunter und drüber. Ein Mann gerät dabei nun ins Kreuzfeuer der Kritik.

Ein grauer Herbst-Vormittag, wie ihn nur der Norden erschaffen kann. Die gelben Blätter im nahen Volkspark fallen. Nieselregen. Schräg links vor der Arena werkeln Bauarbeiter an einer besseren Zukunft des Hamburger SV - hier entsteht bis Mitte 2017 der Campus, das hochmoderne Nachwuchsleistungszentrum, 4600 Quadratmeter groß, die Rasenplätze gleich vor der Tür. Näher ran an die Profis sollen die Talente von der U15 bis zur U23, nicht mehr draußen in Norderstedt/Schleswig-Holstein vor sich hin trainieren.

Der Hamburger Nachwuchs ist samt der zweiten Mannschaft in der Regionalliga nur eine kleine Nummer im Fußball-Norden. Andere spielen die erste Geige, Werder Bremen, der VfL Wolfsburg oder RB Leipzig. Bei keinem anderen Bundesligaklub ist die Durchlässigkeit nach oben zu den Profis so gering wie beim HSV. Daran hat auch die Arbeit von Bernhard Peters nichts verändert. Der ehemalige Hockey-Bundestrainer kam vor gut zwei Jahren als „Direktor Sport“ für die Felder Jugend, Nachwuchs und Koordination zum HSV. Er verdient hier eine hohe sechsstellige Summe im Jahr.

Gebaut werden kann der Campus überhaupt nur, weil Gönner Alexander Otto mit zehn Millionen Euro eingesprungen ist. Ohne sein Gabe wären die Bagger in den Garagen geblieben, denn das Geld, das der HSV zum Vereinsjubiläum vor vier Jahren über seine Fan-Anleihe in Höhe von 17,5 Millionen Euro eingenommen hatte, ist längst für andere Zwecke draufgegangen. Unter dem ehemaligen Präsidenten Carl Jarchow waren die Anleihe-Millionen in den Jahren 2012 und danach nicht etwa geparkt worden, sondern größtenteils ins laufende Geschäft geflossen. Löcher stopfen statt Zukunft bauen – ein Passus im Vertragswerk der Anleihe hatte das möglich gemacht, illegal war Jarchows Griff nach dem Fan-Geld also nicht. Aber wenigstens unanständig.

Dank Ottos Spende kann der Campus trotzdem gebaut werden. Alexander Ottos Vater ist der Versandhaus-Riese Werner Otto. Sohn Alexander saß einst im Aufsichtsrat des HSV, ist nun nur noch Gönner - sicher nicht zu seinem steuerlichen Nachteil. Fest steht, dass der HSV die 17,5 Millionen Euro bis 2019 an seine Anhänger zurückzahlen muss. Mit den Hintergründen zur Campus-Finanzierung steckt man mittendrin im verschlungenen Finanzkonstrukt der HSV Fußball AG. Und der Name Klaus-Michael Kühne war noch nicht einmal im Spiel.

Der 79 Jahre alte Logistik-Milliardär hat von 2010 bis Mitte 2016 etwa 69 Millionen Euro in den HSV gesteckt. Zum Teil als Darlehen, wofür der Klub neue Spieler kaufte und ein Stück des Stadionkredits ablöste; zum Teil, indem er elf Prozent der Anteile an der HSV Fußball AG kaufte; zum Teil, indem er den Stadionnamen erwarb. Im Sommer ging die große Kühne-Show weiter – mehr als 30 Millionen Euro gab er seinem Lieblingsklub für neue Spieler. Die Namen der Profis waren mit ihm und seinen Beratern Reiner Calmund und Volker Struth abzustimmen. Zurückzahlen muss der HSV dieses kuriose und der Öffentlichkeit lediglich vage erklärte Darlehen nur, wenn er in den kommenden Jahren die europäischen Ränge erreicht*.

Das aktuelle Geschäftsmodell des mit etwa 90 Millionen Euro verschuldeten HSV besteht also grob gesagt darin, über neue Schulden alte Verbindlichkeiten zu tilgen, oder wie Finanzvorstand Frank Wettstein es etwas verschlungener sagt: „Die Kernaufgabe beim HSV ist nicht, die Höhe der Verbindlichkeiten zu reduzieren, sondern deren Fristigkeiten in einem Gesamtplan aufeinander abzustimmen.“ Zu dieser Herkulesaufgabe gehört auch die neue Anleihe vom September, die der HSV am Finanzmarkt plazierte. 40 Millionen Euro will der HSV bis 2026 so einsammeln.

Wieder sind es vermögende Privatpersonen, die in den HSV investieren sollen. Fünf Prozent Zinsen soll die Anleihe abwerfen. Der Klub tätigt all die Geschäfte, um den Kopf finanziell über Wasser zu halten. Bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) in Frankfurt schaut man allenfalls zu. Niemand dort ist daran interessiert, dass der Bundesliga-Standort Hamburg von der Landkarte verschwindet. Das weiß auch Frank Wettstein: „Weder die Liquidität noch die Lizenz sind gefährdet.“ Allerdings hätte der HSV seine Bundesliga-Lizenz ohne Kühnes Millionen wahrscheinlich gar nicht mehr.

In diesem Finanzgestrüpp ist nicht die Abhängigkeit vom Geld des Edel-Fans das eigentliche Problem. Sondern deren Einsatz. Kein Klub der Liga in der bedrohlichen Lage des HSV hätte die „Geschenke“ Kühnes ausgeschlagen. Auch Leipzig, Wolfsburg oder Hoffenheim finanzieren sich über Millionen Einzelner, sind oder waren Tochtergesellschaften großer Unternehmen. Doch sie haben das Geld anders, offenbar sinnvoller eingesetzt - zumindest eine Zeitlang. Und hier kommt Dietmar Beiersdorfer ins Spiel.

„Der HSV hatte die Orientierung verloren, und die Probleme des Klubs machen natürlich auch vor der Kabine nicht halt“, das sagte der 52 Jahre alte Vereinsboss zu seinem Einstand vor knapp zweieinhalb Jahren. Sogar ein Leitbild des Klubs hat Beiersdorfer daraufhin Anfang des Jahres entwerfen lassen - Stetigkeit wird darin als hohes und den HSV auszeichnendes Gut beschrieben. Papier ist geduldig. Die Mannschaft des Tabellenletzten schlingert durch die Saison, und der neue Trainer Markus Gisdol wirkt, als sei ihm erst jetzt klar, dass er bei einem Scheinriesen unterschrieben hat. Der HSV ist unter Beiersdorfer zur Dauerbaustelle verkommen. Alles wirkt improvisiert, am besten illustriert durch den Boss selbst, der jetzt seit einem halben Jahr auch den Sportchef gibt: Bis auf weiteres. Im Mai 2016 hatte er Sportchef Peter Knäbel gefeuert, vier Monate später Trainer Bruno Labbadia. Weil er seine stressige Doppelfunktion trotz der teuren Neuen im Kader so erfolglos und im öffentlichen Auftritt ratlos wirkend ausfüllt, hat ihn Aufsichtsrat Karl Gernandt in der vergangenen Woche angezählt.

Der 56 Jahre alte Gernandt ist Präsident des Verwaltungsrats bei Kühne + Nagel und enger Vertrauter Klaus-Michael Kühnes, gewissermaßen Kühnes verlängerter Arm beim HSV. „Es geht sportlich und in der Führung nicht mehr so weiter“, polterte Gernandt. Seitdem gilt Beiersdorfer, der hier über eine Million Euro im Jahr bekommt, als AG-Chef auf Zeit. Schon brachte die „Sport-Bild“ Heribert Bruchhagen als Interims-Präsidenten ins Spiel, sollte der HSV nach der 0:3-Pleite am vergangenen Sonntag beim 1. FC Köln und am nächsten Samstag gegen Borussia Dortmund (15.30 Uhr / live bei Sky und im Bundesliga-Ticker bei FAZ.NET) verlieren. Vielleicht lindert aber auch ein neuer Sportchef das Leid des glücklosen Beiersdorfer, der beim HSV überhaupt nicht an seine erfolgreiche Zeit zwischen 2002 und 2009 anknüpfen konnte. Als Kandidaten gelten Jens Todt, Horst Heldt und Nico-Jan Hoogma.

Dass Beiersdorfer ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist, erstaunt dabei nicht. Eher der späte Zeitpunkt überrascht. Denn Beiersdorfers Bilanz seit Juli 2014 ist mit vier verschlissenen Trainern und zwei Sportdirektoren verheerend. Von wegen Stetigkeit. Seine Kaderplanung ist ein Desaster - es fehlen Innenverteidiger und defensive Mittelfeldspieler im mit 35 Millionen Euro aufgemotzten Kader. Der HSV gibt etwa 54 Millionen Euro im Jahr für seine Fußballprofis aus und ist derzeit dennoch Abstiegskandidat Nummer eins. Die traditionell überzogene Höhe der Gehälter und die Millionen an Abfindungen haben den heutigen Schuldenstand verursacht.

In der hanseatischen Bananenrepublik geht es drunter und drüber. Mal spricht Beiersdorfer zur Lage des Vereins, dann Gernandt, dann Reiner Calmund oder sogar der Spielerberater Volker Struth. Es wird permanent diskutiert und diskreditiert. Längst hat der Bundesliga-Dinosaurier die Rolle der Skandalnudel übernommen, kein Fettnapf wird ausgelassen. Was früher bei der Hertha, in Stuttgart oder auf Schalke passierte, wird vom HSV noch übertrumpft. Für die gesamte Liga und die vielen Fußballfans gehört es längst zur täglichen Folklore, über den tölpeligen HSV zu lästern.

Auf der anderen Seite stehen Werte, die niemand leugnet, wie Umsatzstärke, Fanbasis, Beliebtheit, Tradition. Im Bezahlfernsehen werden die HSV-Spiele immer gut gebucht: Irgendwas wird im Volkspark schon los sein. Mit seiner allgegenwärtigen Unterhaltsamkeit ist der HSV ein unbezahlbares Mitglied im großen Zirkus Bundesliga. Aktueller Renner auf „Youtube“ ist ein Pressekonferenz-Video, in dem Cristiano Ronaldo die deutschen Worte in den Mund gelegt werden, er spiele demnächst gegen den HSV. Allein. Und gewänne 6:0. Dass in diesem Umfeld keine großen Leistungen gedeihen können, versteht sich fast von selbst. Die teuren Hoffnungsträger Filip Kostic und Alen Halilovic sind längst schon wieder auf Normalmaß geschrumpft. In Hamburg aussortierte Spieler wie Artjoms Rudnevs oder Per Skjelbred haben in Köln und Berlin ihre Plätze gefunden. Diese Liste ließe sich beliebig erweitern. Sogar Julian Green trifft für die Bayern.

Und trotzdem bekommt der HSV Spieler aus einem Regal, aus dem er sich eigentlich gar nicht mehr bedienen kann. Weil er sehr hohe Gehälter zahlt. Mit einer großartigen sportlichen Perspektive kann er ja schon seit längerem nicht mehr aufwarten. Beiersdorfers angekündigtes Sparprogramm im Kader ist ein Witz. René Adler, Johan Djourou, Lewis Holtby und Pierre-Michel Lasogga verdienen jeweils deutlich mehr als zwei Millionen Euro im Jahr. Doch sie sind längst Gesichter des Abstiegs geworden.

2014 und 2015 fieberten die HSV-Fans noch mit ihrer Mannschaft; vor allem in der ersten Relegation gab es einen spürbaren Rückhalt aus der ganzen Stadt. Der war ein Jahr später kaum noch vernehmbar. Man hatte sich an den Relegations-Dino gewöhnt. Die vergleichsweise sorgenfreie Saison 2015/2016 vernebelte den HSV-Oberen offenbar die Sinne - eine Trennung von Labbadia im Sommer wäre nach der schwachen Rückrunde sinnvoll gewesen. Den wirren Kader der aktuellen Spielzeit hat Beiersdorfer ohne Labbadia entworfen, weil er schon im Mai von ihm abgerückt war. Gisdol badet das nun aus.

Jetzt wäre es ein Leichtes, vom Neustart in der zweiten Liga zu sprechen. Mit neuer Vereinsführung, drastisch reduziertem Etat, schlanker, jünger, und dann auch mal wieder als Sieger vom Platz gehend. Was schmissig klingt, birgt zwei Risiken: Wie sollen bei deutlich geringerem Umsatz in der zweiten Liga die Darlehen an Kühne zurückgezahlt werden? Und wie will man ein Schicksal à la Kaiserslautern umgehen, ein Traditionsklub, der im Unterhaus feststeckt? Es gibt keine leichten Lösungen für den Hamburger SV. Und die Hoffnung, dass aus den vielen Kühne-Millionen irgendwann etwas Gutes wachsen könnte, ist offenbar eine Illusion.

https://www.faz.net/aktuell/sport/fussbal...rue#pageIndex_2



Eine gute Zusammenfassung der aktuellen Situation, vor allem der letzte Absatz zeigt deutlich die Gefahren auf, die man durch die Zusammenarbeit mit Kühne eingegangen ist und vor denen vor HSV Plus eindringlich gewarnt wurde.

Es gibt nur einen Satz, und ich werde nicht müde es zu betonen, der hier nicht reinpasst:

Antwort auf:
Allerdings hätte der HSV seine Bundesliga-Lizenz ohne Kühnes Millionen wahrscheinlich gar nicht mehr.


Diese These ist schlicht falsch. Mit oder ohne Kühne, die Lizenz wäre nicht gefährdet gewesen, die notwendige Liquidität war trotz aller Schulden stets vorhanden.


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