Der HSV verspielt die letzten Sympathien

Wenn dem HSV noch etwas geblieben ist in diesen trüben Zeiten, dann wohl der Umstand, dass er immer noch die Gemüter erregt. Wer in Deutschland Interesse am Fußball hat, hat für gewöhnlich auch eine Meinung zum Hamburger SV, und wenn es eine schlechte ist. So ist das, wenn man seit Menschengedenken oben dabei ist, da können die Leute einfach mehr mit einem anfangen als mit – sagen wir mal – Mainz, Freiburg oder Augsburg.

Das Erregen von Emotionen jeglicher Art und Ausprägung war der bedeutendste Beitrag, den die Hamburger in den vergangenen Jahren für die Bundesliga geleistet haben. Ihre konstante Präsenz im Abstiegskampf eröffnete wenigstens ein Spannungsfeld in einer Liga ohne Meisterschaftskampf. Insofern ist der HSV, bei allem gelebten Dilettantismus, ein wichtiger Bestandteil des großen Ganzen. Wenn er die Zuschauer schon nicht sportlich begeisterte, dann war der Klub wenigstens gut für Gefühle. Und sei es nur umfangreiches Kopfschütteln ob des unfassbaren Glücks, das den Verein regelmäßig vor dem Abstieg rettete.

„Wir sind der HSV, wir haben es immer geschafft“, sagte dann auch Stürmer André Hahn auf die Frage, warum er noch Hoffnung habe nach dem 0:1 im so richtungsweisenden Nordderby gegen Werder Bremen am Samstagabend. Einfach „der HSV“ zu sein hört sich nach einer dünnen Basis für Hoffnung an angesichts der erdrückenden Tatsache, dass der Abstand auf Rang 16 mittlerweile auf sieben Punkte angewachsen ist. Andererseits: Wenn überhaupt noch etwas als letzter Strohhalm taugt, dann das.

Die Unabsteigbarkeit des HSV gilt offenbar immer noch als so etwas wie ein Naturgesetz des Liga-Fußballs. Doch das dürfte sich bald erledigt haben; so dramatisch wie jetzt war die Lage noch nie. „Es sind noch 30 Punkte zu vergeben. Wir werden nicht aufgeben“, sagte der Vorstandsvorsitzende Heribert Bruchhagen zwar trotzig. Doch auch er weiß, dass 17 Punkte nach 24 Spielen unter normalen Umständen der sichere Untergang sind.

Seit Einführung der Dreipunkteregel 1995/96 haben sich zwar noch 26 von 55 Mannschaften gerettet, die zehn Spiele vor Schluss auf einem Abstiegsplatz standen. Allerdings hatte keine von ihnen sieben oder mehr Punkte Rückstand auf das rettende Ufer. Den Rettungsrekord halten Mönchengladbach (2010/11) und Hoffenheim (2012/13) mit je fünf Zählern Rückstand auf den 16. Rang. Beide setzten sich in der Relegation durch. Hoffenheim war auch der einzige Klub, der 2013 noch weniger Punkte als der HSV hatte, nämlich 16.

Mit Pyro und Plakat gegen Sitte und Anstand
Natürlich: Der HSV ist mittlerweile Experte in Last-minute-Rettungen. Doch es hat sich etwas geändert im Vergleich zu den Vorjahren, als den Verein zumindest so etwas wie stillschweigendes Wohlwollen begleitete. Natürlich gab es auch vorher schon zahlreiche Menschen, die das Lied namens „Jetzt sind sie aber wirklich mal fällig“ sangen, und das zu Recht: 2014 reichten ein 0:0 und ein 1:1 gegen Greuther Fürth in der Relegation zur Rettung, ein Jahr später bedurfte es eines Tores in der Nachspielzeit des Rückspiels gegen Karlsruhe (nach fragwürdigem Freistoß), um die letztendlich rettende Verlängerung zu erreichen. In den Folgejahren dauerte die Rettung bis zum 33. respektive 34. Spieltag und war jeweils dramatisch. Doch viele neutrale Fans goutierten das, in Zeiten der übermächtigen Bayern ist der Fußball-Freund genügsam geworden.

Diesmal aber ist es anders – spätestens seit dem Bremen-Spiel. Nicht nur, dass die unfassbar schlechten Leistungen der Hamburger mittlerweile nur noch nerven. Nun kommen auch unlautere Mittel hinzu. Dass HSV-Fans mit Pyrotechnik offenbar versuchten, in Bremen einen Spielabbruch zu erreichen, war schändlich. Nicht minder, dass sie schon zuvor per Plakat angekündigt hatten, die Spieler beim Abstieg durch die Stadt zu jagen.

Dabei haben die Anhänger von Werder Bremen vorgemacht, dass es auch anders geht. Auch die Bremer sind ja zum chronischen Abstiegskandidaten geworden. Doch während anderswo die Fäuste geschüttelt werden, flaggen die Fans an der Weser Grün-Weiß, bereiten ihrer Mannschaft bei Heimspielen regelmäßig rauschende Empfänge und sind so ein entscheidender Faktor dafür, dass Werder bislang stets dem Abstieg von der Schippe sprang. Auch die HSV-Fans waren bislang ebenso treu wie leidensfähig. Das hat sich gewandelt: Die drei Heimspiele im Jahr 2018 waren nicht ausverkauft, das Murren in der Szene wird zunehmend lauter – und aggressiver.

Bruchhagen und Hollerbach gehen auf den Schiri los
Dazu kommt ein denkbar unsouveräner Umgang der Offiziellen mit der Niederlage. Nach dem 0:1 in Bremen stürmte Vorstandschef Bruchhagen in die Katakomben und wetterte gegen die Schiedsrichter. „Was sind das für Leute, die da in Köln (Standort der Videobeweiszentrale; d. Red.) sitzen? Jeder, der ein bisschen Fußball gespielt hat, der sieht, dass es Abseits ist. Dann haben die eben nicht Fußball gespielt und sind bewusst Schiedsrichter geworden, weil sie dort besser aufgehoben sind“, schimpfte er.

Selbst die Tatsache, dass mithilfe von Zeitlupen und virtuellen Linien nachgewiesen wurde, dass vor dem Bremer Treffer keine Abseitsstellung vorlag, konnte Bruchhagen nicht besänftigen: „Da kannst du tausend Linien ziehen, das ist Abseits.“ Tags darauf entschuldigte er sich immerhin für die Wortwahl: „Das war absolut überzogen, ich bedauere das sehr. Das war ein bisschen der Situation geschuldet. Und dennoch bleibe ich dabei, dass es ein Abseitstor war.“

Auch Trainer Bernd Hollerbach sah sein Team benachteiligt: „Unser Abwehrmann, der auf der Linie steht, wird von hinten in das Standbein getreten. Für mich war das ein Foulspiel. Vorher war es gleiche Höhe – auf der Linie war es aber ein ganz klares Foul. Das muss man auch in Köln sehen“, schimpfte er. „Es wäre ein verdientes Unentschieden gewesen, wenn wir nicht kurz vor Schluss eine Fehlentscheidung hätten hinnehmen müssen.“

In der Tat waren beide Mannschaften im Nordderby so derart schlecht, dass in dem langweiligen Spiel eigentlich niemand den Sieg verdient hatte. Mit dem Finger auf andere zeigen sollten die Hamburger aber keinesfalls. Wer sich so ausdauernd um den Abstieg bewirbt, wird irgendwann auch beliefert. Es sei denn, es gibt wieder irgendein Wunder made in Hamburg. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

https://www.welt.de/sport/fussball/...SV-verspielt-die-letzten-Sympathien.html


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