Wenn sie bloß weinen könnten ...
Der HSV befindet sich seit Jahren im freien Fall – und niemand in Hamburg scheint sich dafür verantwortlich zu fühlen. Bekommt jede Stadt den Verein, den sie verdient?

Herr Hoeneß, wer könnte auf Dauer den Bayern in der Bundesliga gefährlich werden? Einen Moment lang denkt der Patron des Rekordmeisters nach, dann sagt er: "Der HSV." Der Hamburger Sportverein?
Aus heutiger Sicht klingt das lustig, geradezu absurd. Aber der Emotionsmensch Hoeneß, zum Zeitpunkt des Gesprächs noch Manager der Bayern, folgte bei seiner Antwort nicht nur einem spontanen Gefühl, er begründete seine Aussage: Die Hamburger, sagte er, seien kluge Geschäftsleute, das Stadion sei jede Woche ausverkauft. In Vereinen, in denen sich die Menschen auch in schwerer Zeit um ihre Mannschaft versammeln, könne Großes wachsen. Auch die Bayern seien stolz auf ihre Region und das Team, die Dortmunder ebenso, erst recht die Schalker.

Es ist anders gekommen, als Hoeneß es sich vor sieben Jahren vorgestellt hat. Was könnte der Grund dafür sein? Der HSV hat sich nach zehn Spieltagen auf dem letzten Tabellenplatz eingerichtet, vier Tore haben die Spieler geschossen, 23 kassiert. Eine Bilanz kann kaum ernüchternder sein.

Gewiss, für jedes verlorene Spiel, für jede enttäuschende Saison lassen sich in einem Verein Schuldige finden: unter den Spielern, deren Auftritt am vergangenen Wochenende in der Partie gegen Dortmund an Arbeitsverweigerung grenzte. Man kann das HSV-Desaster an den "eigensinnigen" 16 Trainern der vergangenen zehn Jahre festmachen, an der Schar der überforderten Sportdirektoren, die schweigen, wenn der Wind von vorn kommt. Ergänzt wird der Kreis der Verantwortlichen von einem offenbar beratungsresistenten Vorstandsvorsitzenden, zerstrittenen Aufsichtsratsmitgliedern und dem Geldgeber Klaus-Michael Kühne. Ein leidensbereiter Fußballfan offenbar, dem jedoch die Fußballexpertise fehlt, sonst wäre er nicht auf die Dienste des Beraters Reiner Calmund angewiesen.

Es mag so sein, dass sie alle eine Mitschuld tragen. Und ein neuer Mann ist bereits in Sicht: Erst am Montag dieser Woche wurde ein weiterer Heilsbringer in die Verantwortung genommen: Christian Hochstätter verlässt Bochum und übernimmt den Posten des Sportdirektors.

Sollte Uli Hoeneß mit seiner Analyse der Voraussetzungen für Erfolg im Fußball richtiggelegen haben, dann stimmt auch dies: Die Wechselwirkung zwischen einem Verein und seiner Umgebung gilt nicht nur im Erfolgsfall, sondern hat ebenso bei einer Serie von Niederlagen ihre Gültigkeit. Die Frage lautet also: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der desaströsen Lage beim HSV und dem Charakter der Stadt Hamburg?

Ethnologen erforschen schon seit Langem die Wechselwirkung zwischen Fußballvereinen und ihrem sozialen und kulturellen Umfeld. Die Basis eines erfolgreichen Vereins gründet demnach in Ländern wie Deutschland, in denen der Einfluss der Investoren im Gegensatz zu England noch beschränkt ist, auf der Dreifaltigkeit des Fußballsports. Erstens: finanzielle Power, zweitens: Persönlichkeiten, und drittens: das kulturelle Umfeld, bestehend aus Tradition und Konfession. Will ein Verein dauerhaft erfolgreich sein, muss er diese Säulen möglichst eng miteinander verbinden.

"Außer Uwe könnt ihr alle gehen"

Gelingt es einem Club, sich nicht nur von einem Geldgeber abhängig zu machen, sondern die ganze Wirtschaftskraft einer Region zu nutzen, dann führt das nicht nur zu Unabhängigkeit, sondern auch zu Identifikation. Der HSV unterwirft sich trotz der Ausgliederung des Profifußballs einem Hauptförderer, dem Milliardär Kühne. Selbst wenn dieser ausschließlich auf die Interessen des Vereins schaut, entsteht kein Wettbewerb, eher ein Misstrauen. Anders der FC Bayern, der mit den Mitteln der Großsponsoren Allianz, Telekom, Lufthansa und Audi rechnen kann.

Die letzte große Persönlichkeit in der Vereinsführung des Hamburger SV war Günter Netzer. Unter seiner Regie, 1978 bis 1986, gewann der HSV dreimal die Meisterschaft und den Europapokal der Landesmeister. Netzer ist kein Hamburger, er wurde in Gladbach geboren, sein Auftritt als Manager mutete seinem extrovertierten Äußeren zum Trotz reichlich hanseatisch an: kühl, individualistisch. Und dann gibt es natürlich den ewigen Uwe Seeler, am Tage des Spiels gegen Dortmund 80 Jahre alt geworden. Ein Hanseat, oft der Einzige aus der Prominenz der Hansestadt, der sich im Volkspark blicken lässt.

In München hingegen vergeht kaum ein Spiel ohne Auftritt der politischen Elite: Edmund Stoiber und Horst Seehofer, nur zwei von vielen, die verlässlich in der Loge sitzen. Hamburg? Fehlanzeige. Bürgermeister Olaf Scholz wird selten im Stadion gesehen. Damit sind wir bei der dritten, der entscheidenden Säule: die kulturelle Prägung der Hanseaten. Der typische Hamburger meidet die Masse. Gefühle entwickelt er lieber bei Immobiliengeschäften als auf Tuchfühlung bei Volksfesten oder sportlichen Events. Die Erinnerung an das Votum gegen Olympische Spiele in Hamburg ist noch frisch. Es stimmt: Das HSV-Stadion ist zwar weiterhin ausverkauft, spätestens nach 45 Minuten fließen aber keine Tränen, über die Mannschaft ergießt sich Häme: "Erste Liga, keiner weiß warum", stand am Samstag auf einem Plakat. Auf einem anderen war zu lesen: "Außer Uwe könnt ihr alle gehen." Verbundenheit im Abstiegskampf sieht anders aus. Stolz auch. Es wirkt eher, als sei man froh, kein Teil dieses Zirkus zu sein. Ein solches Desinteresse ist im Umfeld von 1860 München oder von Kaiserslautern, zwei Traditionsvereinen, deren Erfolg ebenfalls weit zurückliegt, noch nicht beobachtet worden.

Ethnologen bezeichnen "das Stadion als Spiegel der sozialen Stadtbiografie". Sie sehen Parallelen zwischen der Faszination des Fußballs, dem langfristigen Erfolg und – der Ausprägung des kirchlichen Glaubens. Die meisten langfristig erfolgreichen Vereine in der Bundesliga befinden sich demnach in katholisch geprägten Bundesländern: Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Rund 50 Prozent der Bürger von Berlin und Hamburg gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Die Bereitschaft zur sozialen Emotion in der Masse scheint in diesen Bundesländern tatsächlich begrenzt.

Der französische Professor Christian Bromberger schreibt in seinem Buch Le Match de football: Ethnologie d’une passion partisane à Marseille, Naples et Turin, die Fußballmannschaft als ganze, einzelne Spieler und das Spiel "bieten für den Fan eine Fülle von Selbstbestätigungen". Vor wenigen Tagen wurde die Elbphilharmonie eröffnet. Scharen von Menschen tummeln sich seitdem auf dem Vorplatz, um ein Selfie von sich und dem architektonischen Kunstwerk aufzunehmen, das zehnmal so teuer wurde wie anfangs versprochen. Ist der Schnellschuss gelungen, strahlen sie stolz. Vielleicht bekommt ja jede Stadt das Wahrzeichen, das sie verdient.

https://www.zeit.de/2016/47/hsv-bundesliga-hamburg-fussball-misserfolg/komplettansicht


Ohne Kommentar crazy


.