Eine Geschichte, die der Fußball schrieb: Vor acht Jahren stand Marvin Knoll im erweiterten Kader der U17-Nationalmannschaft. Trainer Heiko Herrlich strich den Berliner. Beim Jahn treffen beide erneut aufeinander.

Herr Herrlich, was war der bisher größte Moment in Ihrem fußballerischen Leben – die erste Meisterschaft mit Dortmund 95, der Champions-League-Sieg gegen Juventus Turin 97, der Weltpokalgewinn mit Ihrem 2:0 gegen Cruzeiro Belo Horizonte – spielen diese Momente noch eine Rolle in Ihrem gegenwärtigen Leben als Trainer?

Herrlich: Natürlich spielt das noch eine Rolle. Man kann nicht plötzlich aufhören, Fußball zu denken. Meine komplette Laufbahn hindurch habe ich mich weiter entwickelt: Ich bin nicht als Profi geboren – als Kind bin ich ein anderer Mensch als mit 10 oder 15. Ehrgeiz hat jedes Kind. Die Frage ist, wie ausgeprägt ist der? Keiner wird es ganz weit nach oben schaffen, wenn er nicht eine sehr hohe Frustrationstoleranz hat. Beispiel Marvin Knoll: Der war im erweiterten Kader für die U17-WM – er wurde von mir gestrichen. Das ist eine harte Geschichte, er hatte ein halbes Jahr zu kämpfen. Auch ich kenne solche schwierige Situationen. Trainer Osiek hat mich aus der U15 wieder weggeschickt, für mich ging damals die Welt unter. Dann durfte ich mit nach Belgien, aber dort wurden von 16 Spielern – alle außer Stefan Klos und mir – eingesetzt. Das tut weh. Dann ist die Frage, stecke ich auf, oder sage ich, jetzt erst recht? Marvin war noch ein Kind, der hat das weggesteckt, sonst hätte er nicht so eine Karriere hingelegt. Ich bin dann unter Berti Vogts dazugekommen und bin doch noch Profi geworden.

Wie groß ist der Abstand von einem, der Dritte Liga spielte, und einem, der‘s ganz nach oben schafft?

Herrlich: Der Abstand ist nicht so groß, es sind die Details, Disziplin, Konzentrationsfähigkeit, Pünktlichkeit. Nicht umsonst gibt es immer wieder Überraschungen im DFB-Pokal. Ich bin als Weltpokalsieger gegen Trier, als Championsleague-Gewinner gegen Wattenscheid ausgeschieden. Aber die Frage ist, wie oft in welcher Nachhaltigkeit können die Underdogs so eine Leistung abrufen – Woche für Woche? Niederklassige Mannschaften verlieren nach so einer Ausnahmeleistung dann oft viermal hintereinander. Das ist auch eine Frage der Mobilisationsschwelle. Mir ging es da ähnlich wie Oli Kahn, ich musste mich in einen Kriegszustand versetzen, bevor ich aufs Feld ging, um meine ganze Leistung abrufen zu können.

Wie setzt man diese Kräfte beim Sportler frei?

Herrlich: Ein Breitensportler, wenn der einmal um den Block läuft, schafft vielleicht 70 Prozent seines Leistungsvermögens, ein Hochleistungssportler 90 bis 95 Prozent. Wenn ich den beiden aber vorgaukeln kann, dass es um ihr Leben geht, dass sie sterben müssten, wenn sie nicht eine bestimmte Zeit schaffen, dann kommen beide an 100 Prozent ihres Leistungsvermögens. In Todesangst kannst du gewaltige Kräfte entwickeln. Beim Fußball braucht niemand Angst um sein Leben haben, aber Kahn und ich, wir konnten uns vor den Spielen in einen Kriegszustand bringen, um unser ganzes Potenzial zu mobilisieren. Danach sind wir wieder liebe Menschen. Das müssen die Spieler kapieren.

Kann es sein, dass die gegenwärtige Generation nicht mehr so hungrig ist, um alles zu geben?

Herrlich: Diese Diskussion erlebe ich, seit ich denken kann. Es heißt auch immer, Leute aus ärmeren Verhältnissen seien hungriger. Aber dann kommt einer wie der Oli Bierhof aus einer wohlhabenden Bildungsbürgerfamilie und schafft es genauso. Es ist einfach menschlich, wir haben es gerne einfach. Ich kann die Spieler kurzfristig packen, aber wenn das bei ihnen nicht von innen kommt, wenn die große intrinsische Motivation fehlt, dann hält das nicht an.

Man hat sie oder hat sie nicht – oder kann man das lernen?

Herrlich: Das ist ein Entwicklungsprozess, ich muss lernen, wie ich diese Dinge für mich umsetzen kann.

Was machen denn die jungen Spieler für ein Gesicht, wenn Sie Ihnen von intrinsischer Motivation erzählen?

Herrlich: Letzendlich ist nicht entscheidend, was ich weiß, oder dass beim Trainerkongress einige Kollegen sagen, „das ist ein geiler Trainer, der hat ein Fachwissen“. Entscheidend ist, dass ein 17-, 25- oder auch 30-Jähriger, der so `ne kleine Öffnung da oben hat und sich wahrscheinlich mit anderen Dingen beschäftigt, kapiert, was ich von ihm will. Wenn er‘s nicht begreift, bin ich ein schlechter Lehrer.

Sie haben bei Ihrer ersten PK einige Dinge, vor allem die Abwehrarbeit der gesamten Mannschaft, kritisiert. Was machen Sie genau, um diese Fehler abzustellen?

Herrlich: Wir arbeiten Schritt für Schritt. Ich kann da jetzt meinen Fundus nicht nach außen geben. Erst am Ende des Prozesses steht das Ergebnisziel. Dieser Weg beinhaltet viel Frustrationspotenzial. Augsburg kommt als Tabellenletzter zum ersten Heimspiel der Rückrunde, die haben nichts zu verlieren. Christian Wörns wird die heiß machen ohne Ende, die werden die Bälle auf die Tribüne dreschen, alles geben, um ihr Tor sauber zu halten. Vielleicht spielst du da nur unentscheiden, vielleicht verlierst du sogar. Dann hast du dein Ergebnisziel nicht geschafft. Was jetzt, knickst du ein? Deshalb muss erst das Vorsatzziel da stehen, dann das Fähigkeitsziel und erst ganz am Ende hast du eine große Chance, das Ergebnsiziel zu ereichen. Das ist, wie wenn du an Silvester den Vorsatz fasst, mit dem Rauchen aufzuhören, und eine halbe Stunde nach Mitternacht rauchst du wieder eine und sagst, naja, fange ich morgen damit an.

Neujahrsvorsätze sind Klassiker des Verschiebens auf morgen – warum ist das so?

Herrlich: So kommst du nie an das Ergebnisziel – in diesem Fall: Ich will gesünder werden. Das Ergebnisziel erreichst du nur dann, wenn du immer motiviert bist, gründlich zu arbeiten, immer was extra machst, dich nicht runterziehen lässt. Wenn du deinen Vorsatz durchziehst und nach jedem Training noch ein paar Extra-Sprints machst, Freistöße oder deinen schwachen Fuß trainierst. Mit diesem Fleiß kannst du zunächst dein Fähigkeitsziel erreichen. Wenn du deine Haltung veränderst, steigt somit auch automatisch die Wahrscheinlichkeit, dass du die Ergebnisse erreichst, die du dir vornimmst. Wir haben als einziger in der Spitzengruppe 27 Gegentore bekommen. Wenn das so bleibt, wirst du nicht da bleiben.

Welche Haltung müssen die Spieler denn Ihrer Meinung nach auf dem Platz einnehmen, um Erfolg zu haben?

Herrlich: Die Hälfte des Spiels ist gegen den Ball. Nach meinem Videostudium habe ich gesehen, dass einige den Eindruck vermitteln, als seien die anderen dafür zuständig. Die Räume, die ich da gesehen habe, waren gewaltig. Oft hat die Kompaktheit gefehlt, der ganze Themenbereich: Vorwärtsverteidigen, Doppeln, Rückwärtsverteidigen, Anlaufen, Überzahl schaffen. Das wird unser Hauptschwerpunkt. Auch bei Standardsituationen haben wir acht Gegentore bekommen. Da spielt auch viel Psychologie eine Rolle, man muss Verantwortung übernehmen, die Herausforderung annehmen. Das muss sich verändern.

Welchen Eindruck haben Sie unter diesen Prämissen von der Mannschaft?

Herrlich: Die erste Trainingswoche ist um, es ist ein unheimlich großer Wille vorhanden, diese Dinge umzusetzen. Ich bin optimisisch, dass wir bis zum Saisonstart eine Mannschaft sehen, von denen die Zuschauer sagen, damit können wir uns identifizieren. Der Funke muss von der Mannschaft auf die Zuschauer überspringen. Wir wollen die Leute begeistern, nicht nur beim Spiel mit dem Ball, sondern auch gegen ihn.

Im ersten Testspiel gegen Jena gab es eine 0:2 Niederlage – Ergebnis Nebensache?

Herrlich: Mit dem Ergebnis können wir natürlich nicht zufrieden sein, 0:2 verloren, kein Tor geschossen. Ich habe die ganze Woche schon geplant, dass wir zwei Mannschaften spielen lassen werden. Wir haben in der Halbzeit komplett getauscht. In der ersten Halbzeit sind wir durch zwei individuelle Fehler 0:2 in Rückstand geraten, haben auch noch ein paar andere Torchancen zugelassen. Das war sicher zu wenig. Ich weiß aber jetzt, wo ich ansetzen muss.

Nämlich?

Herrlich: Wenn der Gegner in Ballbesitz ist, und wir in einer Ordnung stehen, dann weichen wir zurück und verteidigen nicht mutig vorwärts. Die Zweite Halbzeit war dann wesentlich besser. Wir haben eigentlich nichts mehr zugelassen und haben uns darüberhinaus vier, fünf sehr gute Tormöglichkeiten erspielt, die wir leider nicht nutzen konnten. Insgesamt bin ich zufrieden. Die Einstellung bei den Spielern hat gestimmt.

Wie stark hat Sie die Überwindung Ihres Gehirntumors verändert – man verliert zunächst das Gefühl der Selbstverständlichkeit und gewinnt anschließend an Selbstbewusstsein, weil man auch solche Situationen durchsteht? Hat Sie Momo deswegen berührt, weil die grauen Männer auch Ihre Zeit zu rauben drohten?

Herrlich: Die Unbekümmertheit ist verschwunden. Ich bin ein gläubiger Mensch, hatte auch damals noch großes Vertrauen, obwohl ich nicht verstehen konnte, warum mir das passiert. Ich dachte, es muss einen Sinn haben, auch wenn ich ihn nicht verstehen kann. Ich empfand Dankbarkeit für das, was ich erleben durfte. Ich habe mir gewünscht und gebetet, weiter leben zu dürfen, habe aber auch akzeptiert, dass es zu Ende sein kann. Eine Krebsdiagnose ist auch eine Chance, sich von Leuten zu verabschieden. Es ist besser, ein halbes Jahr Menschen glücklich zu machen, als 50 Jahre lang grantig zu sein. Letztendlich hatte ich Gottvertrauen. So etwas verändert die Sichtweise, die Werte, man empfindet eine andere Dankbarkeit, Sorgen werden ganz klein. Wir leben in einem privilegierten Land, in dem selbst ein Arbeitsloser eine Wohnung bekommen kann. Viele materielle Sorgen rücken in den Hintergrund.

Relativiert man in so einer Situation nicht den ganzen Trubel um den Fußball?

Herrlich: Der Fußball blieb trotzdem meine Leidenschaft. Ich halte es da mit Bill Shankly vom FC Liverpool. Der sagte augenzwinkernd: „Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“ Der war Sozialist, für ihn war das Kollektiv entscheidend, eine hohe Teamfähigkeit. Erfolg hat man nur als Truppe. Ich war auch nie Häuptling, immer nur guter Indianer. Und ich bin dankbar, dass ich mit Leuten wie Sammer, Reuter, Kohler und Riedle spielen durfte, weswegen ich mich Championsleague-Sieger nennen darf.

Wie sieht Ihre Idee von Fußball aus?

Herrlich: Ich halte es beim Fußball mit Klopp: Mich treibt nicht die Angst vorm Verlieren, sondern die Lust am Gewinnen. Aber dazu gehört die Verteidigung des eigenen Hauses. Und um das optimal umzusetzen, müssen wir uns mental in einen Kriegszustand versetzen. Das ist wie bei den Gladiatorenkämpfen oder im Film „Der Soldat Ryan“ vor der Landung in der Normandie – du musst sieben Mal pinkeln, weil du so nervös bist, dann geht die Landungklappe auf und du musst schlau verteidigen. Aber, auch wenn ich hier von Kriegszustand spreche, möchte ich eines betonen: Zum Glück muss beim Fußball am Ende keiner sterben, weil das nur ein schönes Spiel ist.

Den Kriegszustand kann man aber auch übertreiben, wie bei den vielen Gelben und Roten Karten in den letzten Spielen ...

Herrlich: Dumme Fouls verursachen unnötige Standardsituationen. Statistisch fallen 27 Prozent aller Tore in den Top-Ligen durch Standards, immerhin ein Drittel aller Tore. Ein guter Grund, sie zu vermeiden. Man hat vor 30 Jahren umgestellt von Mann- auf Raumdeckung. Wenn ich dann aber im Raum verteidige und zum Schluss trotzdem am oder im eigenen Strafraum einen umsäble, hätte ich gleich Mann gegen Mann verteidigen können. Wir müssen versuchen, durch Überzahlsituationen den Ball zu erobern, nicht Foul zu spielen. Natürlich gibt es Momente, in denen es nicht anders geht, aber die Weltmeister Cannavaro oder Nesta haben in der ganzen WM 2006 keine gelbe Karte bekommen. Die sind nie ins 1:1, haben die Situationen immer in Überzahl gelöst. Pep hat bei seinen ersten Trainigseinheiten getobt, weil Boateng so ungestüm draufging – „Mammamia, Jérôme, wart‘, steh‘, nicht gleich draufgehen!“ Er hat aus ihm einen Weltklasse-Innenverteidiger gemacht. Über Barcelona haben alle immer gesagt, booh, das sind super Techniker, aber dass die kaum Foul spielen und kaum Gegentore bekommen, hatte keiner auf dem Schirm. Foul ist immer ein schlechtes Zweikampfverhalten.

Wie ist Ihre Wahrnehmung: Beeindruckt junge Spieler eine Vita als Nationalspieler – können Sie sie dadurch leichter von Ihrem Weg überzeugen?

Herrlich: Du kannst denen zwei Wochen was erzählen. Danach will die heutige Generation wissen, was bringt er uns bei?

Was ist der Unterschied zwischen Jugend- und Seniorenmannschaften – kann man als Trainer mit dem gleichen Stil pubertierende Jungs und erwachsene Männer erziehen?

Herrlich: Im Seniorenbereich hast du in der Spitze ein Drittel Pressearbeit, im Jugendbereich bist du nur Trainer, beides ist eine Herausforderung. Ob der Spieler nun 16, 18 oder 25 ist, entscheidend ist die Öffnung in seinem Kopf – du musst den Zugang finden, eine Beziehung aufbauen. Wissenschaftler sagen, nur 7 Prozent einer erfolgreichen Trainer-Spieler-Beziehung betreffen fachliche Aspekte, 93 Prozent passiert auf der Beziehungsebene. Wenn ich also keine Beziehung zu meinem Spieler aufbaue, kann ich ihm auch mein Fachwissen nicht vermitteln.

Dann kann auch ein Basketballtrainer einen Fußball-Bundesligisten trainieren?

Herrlich: Nicht umsonst hat der DFB einen Hockeytrainer engagiert. Volke Finke hat vor Fußball auch Tischtennis und Handball trainiert, der Sportdirektor des HSV, Bernhard Peters, war Weltmeister mit der Hockeymannschaft. Ich würde mir allerdings nicht zutrauen, eine Basketballmannschaft zu coachen – ich schaue gerne zu, das ist ein sehr taktisches Spiel, aber ich habe keine Ahnung. Vor kurzem habe ich mit Stefan Reuter gesprochen – wir sind uns einig, der Fußball ist im Vergleich zu unseren Zeiten so schnell geworden, das ist eine andere Sportart. Das Spiel gleicht sich immer mehr dem Handball an – zehn verteidigen, zehn greifen an. Wenn man die alten Spiele von der WM 1990 anschaut, das ist Wahnsinn, welche Räume da sind.

Hätten Matthäus & Co. in Top-Verfassung heute noch eine Chance?

Herrlich: Ich glaube, dass sich die Top-Spieler dem heutigen Training angepasst hätten. Zu meiner Zeit gab es keine Athletiktrainer. Wenn man heute Spieler wie Messi anschaut, die haben einen Stiernacken, das sind Gladiatoren, weil man heute erkannt hat, dass es Vorteile im Zweikampf bringt, wenn man den Oberkörper trainiert. Man hat festgestellt, dass es Sinn macht, ganz gezielt bestimmte Muskelgruppen zu trainieren. Nur ein Beispiel: Irgendwann hat man sich gefragt warum selbst kräftige Gewichtheber beim Sprint auf den ersten zehn Metern schneller sind als Sprinter. Das kommt vom Umsetzen beim Gewichtheben, wodurch sie eine extrem gut ausgebildete Oberschenkelmuskulatur entwickeln. Mittlerweile trainieren auch Fußballer mit Langhanteln. Andreas Gehlen ist unser Athtletiktrainer. Wir haben das auch bei Unterhaching gemacht, bei der U17 der Bayern – nur mit leichten Gewichten, um nichts kaputt zu machen. Aber das ist nur ein Mosaikstein von hunderten, anderen Baustellen.

Was waren bei Ihren bisherigen Trainerstationen die Gründe, dass es nicht längerfristig klappte?

Herrlich: Ich bin ein treuer Mensch, war lange Zeit bei Borussia Dortmund, beim DFB drei Jahre, es passt eigentlich nicht zu mir, nur kurzfristig irgendwo einzuspringen. Die U17-DFB-Auswahl wurde nach langer Durststrecke mit mir als Trainer EM-Dritter. Hrubesch holte als U21-Trainer die Europameisterschaft. Aber trotzdem gab es nach außen immer diese Trennung in zwei Gruppen, die Jugend und die A-Nationalmannschaft. Ich sollte U21-Trainer werden, das hat nicht geklappt.

Sie wollten aus dem Jugendbereich raus?

Herrlich: Ja, aber mit Kaiserlautern wurde es zunächst auch nichts, weil ich vom DFB keine Freigabe bekam. Dann kam das Angebot aus Bochum. Matthias Sammer sagte, „warte, da kommt noch Besseres“, aber ich wollte einfach zu Bochum. Ich hatte die Mannschaft übernommen, als sie abgeschlagen auf dem vorletzten Platz stand. Erst passierte gar nichts, nach sechs Spielen haben wir angefangen zu klettern, bis wir nach dem 0:0 gegen Nürnberg acht Punkte Vorspung auf einen Abstiegsplatz hatten. Alle sagten, super, geschafft, aber ich habe gewarnt. Dann haben sich Spieler verletzt, beide 6er sind mir weggebrochen, das konnte ich nicht kompensieren. Drei Spieltage vor Schluss standen wir auf dem Relegationsplatz und ich wurde entlassen. Das letzte Spiel gegen Hannover 96 hätte man gewinnen müssen, um den Klassenerhalt zu schaffen, verlor aber mit 0:4.

Dann stiegen Sie zwei Ligen tiefer wieder ein ...

Herrlich: Es folgte erst einmal ein Jahr Pause, dann überredete mich Mane Schwabl zu Unterhaching zu kommen. Eigentlich wollte ich wieder in die Jugendarbeit, aber nachdem Generali ausgestiegen war, war das eine ältere A-Jugendmannschaft. Und wir gewannen damit im DFB-Pokal gegen Freiburg, auf bayerischer Ebene auch gegen Regenburg. Aber schließlich habe ich wegen meiner Familie aufgehört, das haben viele damals nicht verstanden. Matthias Sammer wollte mich zum DFB zurückholen, aber dann kam er zu den Bayern und sagte, er hätte mich gerne dabei. Ich übernahm die U17, es war eine tolle Erfahrung, dass ich dort zwei Jahre arbeiten konnte. Ich war ja immer etwas medienfaul, weil ich mir sagte, ich bin ein guter Spieler, ein guter Trainer, ich brauche die Medien nicht. Ich habe Lanz dreimal abgesagt, dann bin ich doch mal hin, wurde Experte bei Sky, sah, wie professionell die arbeiten. Und Regensburg hatte ich schon immer beobachtet – das war eine tolle Geschichte, als der Jahn mit Weinzierl in die Zweite Liga aufstieg, obwohl er zu den Abstiegskandidaten gezählt wurde.

Wenn Sie sich das aussuchen könnten: Würden Sie lieber wie in Bremen üblich ein Jahrzehnt einen Verein entwickeln oder lieber alle zwei Jahre die nächst bessere Station anpeilen?

Herrlich: Ich bin im Zweifel für langfristige Geschichten. Das ist eine tolle Aufgabe, mittelfristig hochzukommen. Unterhaching konnte ja seine Spieler immer nicht bezahlen. Wir hatten Talente wie Patrick Ziegler. Ich habe gesagt, das ist ein Bundesliga-Spieler. Wir wollten verlängern, aber sein Berater sagte, „jetzt warten wir erst mal ab“, dann ging er ablösefrei zu Paderborn. Jetzt ist er bei Kaiserslautern und Unterhaching hat kein Geld an ihm verdient.

Kann man sich, wenn man ganz oben war, Championsleague, Nationalmannschaft, wirklich mit Regensburg voll identifizieren?

Herrlich: Warum denn nicht, das ist doch ein toller Verein?! Für mich war es immer ein Privileg, im Fußball arbeiten zu dürfen. Ich war lange genug Spieler, ich kenne die Aufmerksamkeit. Ich kann nicht ausschließen, dass ich noch einmal auf einem höheren Niveau arbeiten möchte oder dass sich Regensburg dahin entwickelt. Aber die Gefühle nach einem Sieg oder einer Niederlage sind immer die gleichen, ob in der U17, in Dortmund, Bochum oder Regensburg. Ich hatte vorher gesagt, dass sich meine Werte während meiner Krankheit veränderten. Eine hohe Jobzufrieddenheit ist mehr wert als Geld. Das ist eine faire Geschichte für den Verein und mich. Wir schauen ein halbes Jahr, dann sehen wir weiter. Aber ich gehe immer eine Beziehung ein, als wäre es für immer. Für mich wäre es ein Traum, wie Guy Roux beim AJ Auxerre langfristig gestalten zu können. Man braucht starke Leute drum herum.

Wie gefällt Ihnen Regensburg?

Herrlich: Meine Mutter schwärmt schon immer von Regensburg. Ich selbst bin in der Nähe von Freiburg im Schwarzwald aufgewachsen – Regensburg vereint das Schönste aus Heidelberg und Freiburg.

Sie sind aber in Mannheim geboren – auch ein Sohn Mannheims?
Herrlich: Ja und Xavier Naidoo ist einer meiner deutschen Lieblingsmusiker – auch ein gläubiger Christ. Aber persönlich kenne ich die Söhne Mannheims leider nicht.

Was lesen Sie denn außer Momo gerne?

Herrlich: Ach, am liebsten die letzte Seite in der SZ mit den persönlichen Interviews. Frank Schätzing ist dort dreimal von einer Journalistin gefragt worden, „was ist Ihre Erfolgsformel?“ Zweimal sagte er, es gibt keine, die Interviewerin ließ nicht locker, sagte, Sie haben uns doch praktisch schon beschrieben, was den Erfolg ausmacht. Dann sagte er: „Also gut, ganz nach oben zu zielen, mit dem Risiko, bei 90 Prozent auf die Fresse zu fallen, mit all den Leuten um einen rum, die sich freuen: ‚Schau mal, wieder einer, der es versucht und nicht gepackt hat‘. Aber wer nur auf die Mitte zielt, wird es nie ganz nach oben schaffen.“ Es ist wichtig, dass man sich von anderen Menschen beeinflussen lässt. Als Trainer ist für mich klar, dass ich die Generation Toni Kroos, die ich ja selbst trainiert habe, am Ende ihrer Karriere fragen muss, wie sie den Fußball sieht. Ich muss denen zuhören, damit ich mich weiterentwickle und nicht auf meiner Idee von Fußball stehenbleibe.

Wie entwickeln Sie sich außerhalb des Fußballplatzes weiter?

Herrlich: Vor drei Jahren habe ich den Motorradführerschein gemacht, obwohl ich mir das als alter Mountainbiker nie vorstellen konnte. Mein 68-jähriger Vater, ein pensionierter Sonderpädagoge, hat gestöhnt, „was tust du mir an?“ Ich hab ihm gesagt, „jetzt bist du Rentner, mach doch auch den Führerschein, dann können wir endlich was zusammen machen“. Und er hat das wirklich gemacht, ich glaub‘, er war der Älteste, der das geschafft hat. Wir haben uns zwei Harleys besorgt und sind drei Wochen, Vater und Sohn, nach Sizilien gefahren und waren auch auf dem Ätna. Später bin ich bei einer geführten Tour auf der Route 66 durch die USA – unsere Gruppe war ein Spiegelbild der Gesellschaft, das sind Erlebnisse, die bleiben.

Wäre mal eine Teambuliding-Maßnahme für die Mannschaft …

Herrlich: Nein, ich denke dann wandern wir doch lieber gemeinsam einen Berg hinauf.

Quelle: onetz.de