Kreiszeitung 11.01.2008

Das Ende vor dem Beginn?

Die schier unendliche Leidenszeit des ehemaligen Werder-Profis Marco Stier

Von Arne Flügge

Es sollte ein Neuanfang werden. An dessen Ende die Erfüllung eines großen Traumes steht. Nach den vielen Rückschlägen, Schmerzen und Frustrationen, bei denen auch die Grenze der psychischen Belastbarkeit so manches Mal überschritten war, wollte Marco Stier diesen Traum jetzt endlich auch leben: Im Sommer 2006 wechselte er deshalb von Werder Bremen zu Bayern München. Aber wieder einmal ging alles schief - wie so oft in den vergangenen Jahren. Neue Nackenschläge und Schmerzen und immer wieder die quälende Frage: "Was passiert hier eigentlich mit mir? Das kann doch nicht sein!"

Doch der mittlerweile 23-Jährige, der einst als größtes Stürmer-Talent seines Jahrgangs im deutschen Fußball galt und bis heute noch immer nicht eine einzige Bundesliga-Minute auf dem Platz stand, gibt nicht auf. Er kämpft. Leidenschaftlich, mit eisernem Willen. Getrieben von seinem großen Traum. Gestützt von seiner Familie. Getragen von der Hoffnung: "Wenn ich endlich mal gesund werde und bleibe, dann werde ich auch den Sprung in die Bundesliga schaffen", sagt Marco Stier. Und es ist keine Durchhalteparole. Es ist seine tiefste Überzeugung.

Rückblick: Als 15-Jähriger kam der gebürtige Hamburger 1999 ins Internat von Werder Bremen. Schnell wurde auch der DFB auf das große Talent aufmerksam. Stier durchlief sämtliche Junioren-Nationalmannschaften. Ein Höhepunkt: Bei seinem Debüt in der U 20 am 27. August 2003, gerade der A-Jugend entwachsen, erzielte er beim 5:1 im Testspiel gegen die Schweiz zwei Tore. Der Lohn: In Bremen unterschrieb Marco Stier seinen ersten Profivertrag bis zum 30. Juni 2006.

Der Anfang war gemacht. Dass er in seiner damaligen Überschwänglichkeit zum ersten Profitraining in goldenen Fußball-Schuhen erschien, war allerdings wohl etwas übertrieben. Mladen Krstajic, einer der Bremer Stars im Meisterjahr und bevorzugter Träger von ausgelatschten Übungs-Tretern, fand es jedenfalls "ganz schön affig". Wie auch Stiers dick nach hinten gegelten Haare. Werder-Trainer Thomas Schaaf interessierte das Talent des jungen Stürmers mehr als dessen Frisur oder seine Vorlieben für außergewöhnliche Arbeitskleidung. Schaaf damals: "Marco ist ein hochtalentierter Stürmer, von dem wir uns für die Zukunft noch einiges erhoffen."

Stier wollte das beweisen, hängte sich im Training rein, ehe im Februar 2004 plötzlich Leistenschmerzen auftraten. Genauere Untersuchungen ergaben: Der Jungprofi hatte sich eine Schambein-Entzündung zugezogen. Zehn Monate Pause mit der einen oder anderen kurzen Unterbrechung. Niederschmetternd.

Doch das war nur der Anfang einer zweijährigen Verletzungs-Odyssee (siehe Kasten), an deren Ende im Januar 2006 die bittere Mitteilung des Clubs stand: Der im Sommer auslaufende Vertrag wird nicht verlängert.

Marco Stier hatte keine Chance gehabt, sich bei Werder - seiner ersten Profistation - richtig zu beweisen. Schließlich hat er mehr Stunden beim Arzt, im Rehazentrum oder im Aufbautraining als mit der Mannschaft verbracht. Hinzu kam, dass er 2003 in der Meistersaison in einen Bremer Kader aufgenommen wurde, in dem die Sturm-Kollegen Ivan Klasnic und Ailton die Liga in Grund und Boden schossen. Es war so, als würde Hardy Krüger jr. gegen Daniel Craig um die Hauptrolle im neuen James Bond antreten.

Nach sieben Jahren an der Weser musste sich Marco Stier, mit 22 Jahren und mittlerweile Vater der zweijährigen Tochter Lina-Sophie, nach einem neuen Club umsehen. Angebote gab es. Borussia Mönchengladbach und der FC St. Pauli, für den Stier schon in der Jugend spielte, hatten Interesse angemeldet. Doch dann rief im März 2006 Hermann Gerland an. Der Trainer der Regionalliga-Mannschaft des FC Bayern München wollte Marco Stier unbedingt verpflichten, um ihn für größere Aufgaben - sprich den Kader des deutschen Rekordmeisters - vorzubereiten. "Bayern war schon damals mein absoluter Lieblingsclub", schwärmt Marco Stier noch heute: "Das war meine große Chance."

Doch die Euphorie erhielt nur ein paar Wochen später einen herben Dämpfer. Im April 2006 erlitt Marco Stier einen Mittelfußbruch. Wieder eine Verletzung, wieder ein Rückschlag. Aber bis zu seinem Arbeitsantritt in München am 1. Juli 2006 waren es ja noch acht Wochen. Zeit genug, um wieder fit zu werden. Es sollte jedoch schlimmer kommen, viel schlimmer: Bis heute, also knapp eineinhalb Jahre lang, hat Marco Stier noch nicht einmal mit seiner neuen Mannschaft trainieren können! "Die Schmerzen im Fuß sind nicht weggegangen", berichtet Stier.

Eine 3-D-Aufnahme bei Mannschaftsarzt Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt hatte dann ergeben, "dass sich ein Stück vom Knochen weggefressen und eine Entzündung gebildet hatte. Das war schlimm", sagt Stier. Eine Operation war unumgänglich. Von seinem linken, dem gesunden Fuß, wurde ein Stück Knochen in den anderen, den lädierten, verpflanzt. Fünf Wochen Gips, dann Reha - und trotzdem "immer noch diese höllischen Schmerzen", erinnert sich Stier.

Er war fix und fertig. "Ich musste erst mal den Kopf frei kriegen." Auch zwei Monate später waren die Schmerzen noch immer brutal. "Die Entzündung wollte einfach nicht rausgehen", berichtet Stier von seinem Martyrium.

Er konsultierte Spezialisten in Heidelberg und Salzburg. Um der Verletzung endlich Herr zu werden, wurde eine erneute Operation notwendig. Der Knochen wurde angebohrt. Die Folge: Erneut fünf Wochen Gips und Reha. Doch auch diese Maßnahme schlug fehl. Die Schmerzen kamen zurück. "Ich glaube, ich habe mittlerweile rund 4.000 Tabletten geschluckt", sagt der 23-Jährige.

Nach fast einem Jahr in München die niederschmetternde Nachricht: "Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich nie wieder Fußball spielen kann. Das Gelenk sei völlig beschädigt, der Knorpel total kaputt. In diesem Moment ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Fußball ist doch mein Leben. Ich wollte das nicht wahrhaben. Mein Traum vom Profifußball - alles vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat?" Hätte er in diesem Moment die Möglichkeit gehabt, "ich hätte drei Kerzen angezündet". Und zum ersten Mal flackerten die Gedanken auf: Was soll nun werden?

Mut hat ihm in dieser Zeit vor allem Bayern-Doc Müller-Wohlfahrt gemacht. "Wenn ich sehe, wie die Stars bei ihm reinhumpeln und gesund rauskommen, dann musste es doch auch für mich eine Lösung geben", erklärt der Stürmer. Und der Mediziner habe ihn auch wieder aufgebaut: "Und du wirst doch wieder spielen können’, hat er mir gesagt."

Die unsägliche Situation hat auch psychisch mehr und mehr an Marco Stier genagt. Monatelang war er schon nicht mehr zu einem Fußballspiel gegangen. "Ich wäre durchgedreht. Das war eine Katastrophe." Den größten Halt hat ihm in dieser Phase seine Familie gegeben. Allen voran Töchterchen Lina-Sophie und Ehefrau Julia. "Für meine Frau ist das alles nicht einfach gewesen. Ich hatte oft schlechte Laune, hab’ ihr nur auf der Pelle gehockt. Ich bin ihr sehr dankbar. Wir haben es gut gemeistert. Die Familie ist noch näher zusammengerückt."

Und als wäre Marco Stier in den vergangenen Jahren nicht schon genug auf die Probe gestellt worden, schlug Mitte dieses Jahres der nächste Schicksalsblitz erbarmungslos ein. Seine Frau Julia wurde krank. Sehr schwer krank. Ein Kampf auf Leben und Tod. "Ich hatte große Angst." Und die Dimensionen waren plötzlich ganz andere. "Was ist schon mein scheiß Fuß, wenn es um das Leben geht?", fragte sich der Familienvater. Nach Wochen der Ungewissheit kam dann endlich die frohe Botschaft: Julia ist wieder völlig genesen.

Dass auch Marco Stier wie aus heiterem Himmel inzwischen fast völlig schmerzfrei die ersten Laufeinheiten absolvieren konnte, war zweifellos das kleinere Wunder. Doch eben auch eins. "Die Entzündung ist so gut wie raus. Ich merke kaum noch etwas", freut sich Stier, der dennoch rückblickend feststellt: "2007 war ein Drecksjahr. Das schlimmste in meinem Leben."

Sein großes Ziel ist es nun, mit Beginn der Vorbereitung auf die Rückrunde endlich und zum ersten Mal zum Regionalliga-Team der Bayern zu stoßen. Die Zeit wird allerdings knapp. Stiers Vertrag in München läuft im kommenden Sommer bereits wieder aus. Und die Erinnerung an Bremen, wo er unter anderem wegen seiner vielen Verletzungen aussortiert worden war, sind noch allgegenwärtig.

Bayern-Manager Uli Hoeneß hat Marco Stier allerdings Hoffnung gemacht. "Er hat mir gesagt, dass man mich nicht fallen lässt", glaubt Stier. Eine Einschätzung, die sein Trainer Hermann Gerland teilt: "Marco hat in den vergangenen Jahren unheimlich viel Pech gehabt. Wenn er sich in der Rückserie zeigen kann, haben wir kein Problem, den Vertrag zu verlängern. Wir sind der FC Bayern, wir lassen niemanden hängen. Ich habe noch große Hoffnung, dass der Junge zurückkommt."

Weihnachten verbringt Marco Stier bei seinen Eltern in Hamburg und der Familie seiner Frau in Bremen. Am 7. Januar ist bei den Bayern-Amateuren Trainingsauftakt. Und dann will er endlich den Neuanfang seines schon vor 18 Monaten geplanten Neuanfangs starten. In der Hoffnung, dass sein Traum nicht nur ein Traum bleibt: "Ich weiß, dass ich es schaffen kann."


Die Chronik:

Februar 2004: Marco Stier klagt das erste Mal über Leistenbeschwerden. Als Diagnose stellt sich heraus: Schambeinentzündung. Nur leichtes Lauftraining möglich, zehn Monate Pause mit Unterbrechungen. Als Werder Anfang Mai mit dem 3:1 in München die Deutsche Meisterschaft perfekt macht, gehört Stier wieder zum Kader, wird aber nicht eingesetzt.

Anfang Januar 2005: Marco Stier hofft auf sein Comeback, reist mit ins Trainingslager ins türkische Belek. Am 11. Januar muss er zurück, die Schmerzen sind wieder aufgetreten. Stier entschließt sich zum radikalen Schritt und Schnitt, lässt in einer Berliner Privatklinik beide Leisten operieren. Bei der linken werden sogar Nerven durchtrennt, damit die Schmerzen nicht wiederkommen können.

29. März 2005: Stier steigt wieder ins Mannschaftstraining ein.

28. April 2005: Einsatz bei den Werder-Amateuren in der Regionalliga. Stier schießt Werder beim FC St. Pauli zum 1:0-Sieg.

3. Mai 2005: Trainingsunfall bei den Profis. Stier verletzt sich am Knie. "Unter anderem ist die Kniescheibe rausgesprungen. Das tat höllisch weh", erinnert sich der Fußballer. Der Verdacht auf einen Kreuzbandriss bestätigt sich zum Glück nicht. Eine schwere Dehnung. Dennoch zehn Tage Pause - die Saison ist gelaufen.

Anfang Juli 2005: Saisonauftakt bei Werder. Stier reist hoffnungsvoll mit ins Trainingslager nach Norderney.

Ende August 2005: Die Saison ist noch jung. Im Training erleidet Stier nach einem Zusammenprall mit Torwart Kasper Jensen einen komplizierten Nasenbeinbruch. Er muss operiert werden. Vier Wochen Pause.

3. Oktober 2005: Marco Stier steht wieder auf dem Platz, schießt die Werder-Amateure gegen Preußen Münster mit 1:0 in Front.

Ende Oktober 2005: Stier hat sich mit guten Leistungen bei den Amateuren wieder für den Bundesliga-Kader empfohlen. Doch bei der 0:2-Niederlage im Regionalligaspiel gegen Jena kommt’s knüppeldick: Kiefer- und Jochbeinbruch. Stier fällt wieder vier Wochen aus, die Hinrunde ist gelaufen, eine Trennung von Werder bahnt sich an.

Januar 2006: Das Trainingslager der Profis in Belek findet ohne Marco Stier statt. Die Entscheidung ist gefallen: Der im Sommer auslaufende Vertrag wird nicht verlängert.

April 2006: Marco Stier ist sich seit vier Wochen über einen Wechsel zu den Amateuren des FC Bayern München einig. Dann der erneute Rückschlag: Bruch des rechten Mittelfußes.

1. Juli 2006: Dienstantritt beim FC Bayern. Doch anstatt des erhofften Neuanfangs beginnt eine neue Odyssee. Komplikationen am gebrochenen Mittelfuß, zwei Operationen und ständige Schmerzen haben bis heute - nach eineinhalb Jahren - nicht einmal eine einzige Trainingseinheit mit der neuen Mannschaft zugelassen.