Alkohol, Frauen, Suizid-Gedanken und Glück



Er hat geraucht, getrunken und gezockt. Er war ein Aufreißer, ein Lebemann, ein Goalgetter und Publikumsliebling.

Michael Tönnies verkörpert den Bundesligaprofi, der im heutigen, aalglatten Fußballgeschäft ausgestorben ist. Ein Typ, mitten aus dem Leben, mitten aus dem Pott. Der Essener hat seinen Traum gelebt – exzessiv, aber immer ehrlich und echt.

Ein echter Held ist Tönnies vor allem in Duisburg. Beim MSV hat der 55-Jährige Bundesliga-Geschichte geschrieben, als er am 27. August 1991 ausgerechnet gegen den damaligen Karlsruher Oliver Kahn in nur sechs Minuten drei Tore nacheinander schoss. Rekord. Bis heute ist es der schnellste Hattrick der Eliteklasse.
Doch der Ruhm verblasste. Tönnies stürzte ab. Privat, aber besonders gesundheitlich. 2005 kam die niederschmetternde Diagnose für den Kettenraucher: Lungenemphysem. Er dachte sogar an Selbstmord. Doch die Fans des MSV gaben ihm neuen Lebensmut und er nahm den Kampf an.

Über sein bewegtes Leben hat „Der Dicke“ nun ein Buch geschrieben. Passend zu seinen in Spitzenzeiten rund 80 Zigaretten pro Tag heißt es „Auf der Kippe“ und wird am Samstag, 2. Mai, im „Djäzz Jazzkeller“ in Duisburg (20 Uhr) vorgestellt.

Im RS-Interview spricht Tönnies, der als Sportlicher Leiter beim designierten Oberliga-Aufsteiger in Essen-Schonnebeck arbeitet, über seine „dunkelsten Gedanken“, Frauengeschichten und warum er keine Lust hat, heutzutage Profi zu sein.

Michael Tönnies, Sie sind Co-Stadion­sprecher der Zebras. Wie haben Sie den wichtigen Sieg in Dresden erlebt?
Ich bin von der Mannschaft total begeistert. Mit dem 2:0 bei Dynamo ist eine neue Euphorie entstanden. Im gesamten Verein, in der ganzen Stadt herrscht jetzt Aufbruchstimmung. Das war der entscheidende Schritt.

Zum Aufstieg?
Es stehen noch vier schwere Spiele an, aber ich bin mir sicher, dass wir Zweiter werden und direkt aufsteigen.

Führt die Euphorie zu noch mehr Selbstvertrauen, oder vielleicht auch zur Selbstzufriedenheit im Team?
Ein Sportler ist nie zufrieden, sondern will immer mehr. Deshalb werden zum ohnehin schon großen Selbstvertrauen der Jungs jetzt noch ein paar Prozent oben drauf kommen. Denn es geht immer noch ein bisschen mehr als 100 Prozent.

Eine Aussage, die Sie als Profi aber nicht beherzigt haben.
(lacht) Stimmt. Diese Einstellung musste ich erst einmal lernen. Denn die Selbstzufriedenheit ist heimtückisch und hatte mich manchmal im Griff. Ich habe dann gemeint, es würde auch die halbe Kraft ausreichen. Ich war einer, der nicht immer an seine Leistungsgrenze gegangen ist. Aber das kann man auch gar nicht.

Warum nicht?
Weil jeder Spieler psychisch nicht immer gleich drauf ist. Mal gibt es zu Hause Theater mit der Frau, oder das Kind ist krank, und schon ist man mit seinen Gedanken woanders. Das kann selbst ein abgezockter Profi nicht alles wegstecken.

Sie waren mit Ihren Gedanken auch nicht immer beim Sport. Würden Sie es heute anders machen?
(lacht) Mich würde es heute gar nicht geben. Die Spieler sind alle anders, stromlinienförmig. Ich brauchte immer Freiheiten, dann habe ich die besten Leistungen gebracht. Trainingslager waren für mich die Hölle, weil man einkaserniert war. Heute wäre ich kein Profi, weil mir der geplante Ablauf widerstrebt. Ich will nicht bösartig sein, aber heute werden alle in ein Schema F gedrängt. Einfach mal in die Kneipe oder ins Kino zu gehen, ist nicht mehr möglich, ohne sofort fotografiert zu werden. Früher war das Leben einfach schöner, heute ist es dafür aber der Kontostand.

Bereuen Sie etwas?
Sportlich nicht. Oliver Kahn brauchte Titel, um glücklich zu sein. Ich bin aber glücklich, so wie es gelaufen ist. Ich bin gefeiert und manchmal auch verflucht worden. Ich brauchte keine Meisterschaft, ich brauchte meine Freiheit. Die kann mir auch niemand nehmen. Ich habe viel gelacht und hatte ein tolles Leben. Weil ich vielleicht etwas zu viel gelebt habe, hatte ich dann ja auch meine siebenjährige Leidenszeit. Im privaten Bereich bereue ich allerdings einiges.

Was denn?
Das Rauchen. Es war viel zu extrem. Aber auch auf den Alkohol oder das Spielen bin ich nicht stolz.

Warum haben Sie mit dem Rauchen angefangen?
Ich war 13 und wollte einem Mädchen imponieren. Sie hatte geraucht, also habe ich mir auch Kippen geholt. Ich habe sie ihr angeboten, aber sie wollte weder meine Zigaretten noch mich. Ich war so enttäuscht, dass ich mir erst einmal eine angesteckt habe.

Weiß Sie von Ihrem Werdegang?
Ja. Ich habe sie im Dezember 2014 auf der Weihnachtsfeier in Schonnebeck zum ersten Mal nach mehr als 40 Jahren wiedergesehen. Sie stand auf einmal neben mir und sagte „Hallo.“ Ich wusste sofort, wer es ist und dachte, mich trifft der Schlag. Sie fragte, ob ich mich noch an die Zigaretten erinnern würde und ich musste lachen. Ich habe mich aber nur kurz mit ihr unterhalten, weil meine Freundin Astrid schon böse geguckt hat (lacht).

Mit Ihrer Lebenspartnerin sind Sie seit dem 19. Dezember 2013 zusammen. Astrid hat sich also kurz nach der Lungentransplantation für Sie entschieden. Ist sie Ihr wichtigster Halt?
Ja. Dass ich nach so einer schweren Krankheit überhaupt noch eine Frau kennenlerne und sie sich auch auf einen kranken Mann einlässt, ist ein Segen. Sie konnte damals ja nicht wissen, dass ich mich so gut erholen würde. Sie hat sofort ihre Wohnung aufgegeben und ist zu mir gezogen. Dafür gebührt ihr meine Hochachtung.

Waren Sie früher ein Frauenheld?
(lacht) Wenn ich im Mercedes durch die Stadt gefahren bin, ja. Im Opel Corsa hat sich aber nie eine Frau umgedreht. Nein, Scherz beiseite: Wenn ich in festen Händen war, war ich immer treu – aber ich war nicht oft in festen Händen. Ich hatte in meiner wilden Phase nur zwei Beziehungen. In der Zeit zwischen meiner ersten Freundin und meiner Frau ging es aber ordentlich ab. In Bocholt war es so, dass ich wie ein bunter Hund bekannt war. Dort war ich ein Superstar und es ging alles schneller. Der sportliche Erfolg ist mir schon zu Gute gekommen, aber ich habe beim Kennenlernen nie erzählt, dass ich Bundesligaspieler bin. Darauf mussten die Mädels schon selbst kommen. Ich habe auch nichts Verbotenes gemacht – nur einmal.

Und was war das?
Wir hatten nicht so viel Geld. Also habe ich als 14-Jähriger ein paar Kekse in einem Tante-Emma-Laden geklaut. Der Diebstahl ist zwar nicht aufgeflogen, aber ich habe mich eine Woche absolut schlecht gefühlt. Ich musste für meine Mutter immer wieder dort einkaufen gehen, konnte die Verkäuferin aber nicht mehr anschauen. Das war schrecklich.

Nach eigener Aussage sind Sie in Kneipen groß geworden und haben nicht ins Glas gespuckt. Gab es auch mal handfeste Auseinandersetzungen?
Nein. Ich bin stolz drauf, dass ich mich nie geprügelt habe. Alle haben erzählt, du musst dich mal geschlagen haben, um ein echter Mann zu sein. Doch das ist Unsinn. Ich habe sicherlich auch mal Ärger gehabt, aber es war nie mehr als eine Schubserei, denn dann habe ich mich umgedreht und die Sache war erledigt. Das war nicht feige, sondern meine Reaktion war die einzig Richtige.

Kommen wir zu einem anderen Thema, das bereits angeklungen ist. Ihrer Lungentransplantation am 6. April 2013. Wissen Sie etwas über den Spender?
Nein. Darüber bin ich auch froh, denn ich glaube, mich würde es belasten. Ich bin unendlich dankbar, würde mich aber den Angehörigen gegenüber verpflichtet fühlen. So ist alles in Ordnung, denn Gedanken musste ich mir schon genug machen.

Verständlich, schließlich hatten Sie jahrelang Todesangst.
Stimmt, aber es war noch schlimmer. Vor der Transplantation habe ich mich nachts dabei ertappt, wenn ich eine Blaulicht-Sirene hörte, zu denken: Vielleicht stirbt da jemand, der mir helfen kann. Ich habe dann darauf gewartet, dass das Telefon klingelt und ich erlöst werde. Das sind grausame Gedanken, denn so etwas denkt man einfach nicht. Ich kann ja nicht jemandem den Tod wünschen.

Aber es ist doch absolut verständlich.
Natürlich ist man in einer lebensbedrohlichen Lage Egoist, dennoch habe ich den Gedanken für so schlecht gehalten, dass ich mich niemanden anvertraut habe und nun erstmals darüber spreche. Es ging in der schlimmsten Zeit ja sogar noch eine Stufe höher. Ich habe gedacht: Hoffentlich stirbt heute jemand, der als Spender passt. Mit der Zeit kann ich darüber reden, aber das hat mich extrem belastet. Heute nenne ich sie meine „dunklen Gedanken“.

Sind Sie eigentlich Organspender?
Natürlich. Man kann immer etwas gebrauchen, auch wenn es nur die Netzhaut ist. Organspende ist unheimlich wichtig. Jeder sollte so einen Ausweis haben, sonst verrottet alles nur in der Erde.

Haben Sie auch an Selbstmord gedacht?
Nicht nur ein Mal, mehrmals. Wenn ich die richtigen Tabletten gehabt hätte, hätte ich sie genommen. Denn es ist das Schlimmste, wenn man keine Luft bekommt und du bei allem auf Hilfe angewiesen bist. Ich hatte keine Freude mehr am Leben und habe mich nur als eine Belastung empfunden. Alle haben mich mitleidig angeschaut. Wenn man mal von tausenden Fans gefeiert wurde und dann wie ein Häufchen Elend im Bett liegt, bricht eine Welt zusammen.

Die Fans, von denen Sie früher gefeiert wurden, haben Ihnen ein zweites Mal neuen Lebensmut geschenkt.
Ja. Ich habe viele Briefe und Zuschriften von den Anhängern erhalten, die mir Kraft gegeben haben. Ohne sie wäre ich vielleicht nicht mehr hier. Ihnen bin ich zutiefst dankbar.

Wie geht es Ihnen aktuell?
Ganz gut. Ich bin froh, dass so weit alles in Ordnung ist und mein Leben wieder lebenswert ist. Ich kann zwar nicht über Zäune springen und mir auch meinen Traum, noch einmal für die Traditionself der Zebras zu spielen, nicht erfüllen, doch ich genieße jeden Tag. Ich führe ein tolles Leben, kann atmen, essen, normal trinken, habe eine super Freundin, bin bei meinem Lieblingsklub als Stadionsprecher dabei und auch der Job als Sportlicher Leiter in Schonnebeck macht mir Spaß. Ich bin glücklich.

Wenn Sie das Stadion betreten: Waren Sie als Spieler, oder als Stadionsprecher nervöser?
Als Stadionsprecher. Früher wusste ich, dass ich den Ball einfach nur reinhauen muss. Heute muss ich zwar „nur“ die Aufstellung vorlesen, aber ich habe Angst, mich zu versprechen. Deshalb bin ich froh, dass unser erster Mann, Stefan Leiwen, bei mir ist. Trotzdem ist es mehr als beeindruckend, vor der Kurve zu stehen. Wenn die Leute dann den Nachnamen zurück schmettern, ist das eine gute Nummer, die einen auch schnell aus dem Konzept bringen kann.

Was wünschen Sie sich neben der fehlerfreien Namensverlesung für die Zukunft?
Gesundheit und den Aufstieg. Die Fans haben so viel hinter sich, sie haben ihn schlichtweg verdient. Ganz Duisburg, wir alle, haben ihn verdient.

reviersport.de