Erinnerungen an das Pokalfinale 2011: Berliner Nachthimmel



Es war der Moment, als alle verstanden, worum es hier ging. Als jeder wusste, warum er hier war und was er gerade tat. Kurz vorher waren es vielleicht nur der Trotz und die Trauer gewesen, ein Trostgesang gegen das, was sich dort unten auf dem Rasen abspielte.

Damals an diesem 21. Mai, als die Dämmerung sich über das Berliner Olympiastadionsenkte und die Mannschaft des MSV Duisburg 0:5 hinten lag, vollkommen chancenlos und demontiert. Überall waren sie, diese müden Gesichter, alle mit sich und ihrer Trauer alleine. Aber da war es dann wieder, dieses Gefühl. Wie ein warmer Teppich schlich es durch die Sitzreihen, zog hoch unters Dach und bis in die äußerste Reihe. Man entdeckte es auf den Treppen, als die Ersten mit gespreizten Armen die Stufen erklommen. Man hörte es, als im Block einer rief: „Lauter, alle jetzt, lauter!“ Diese wenigen Augenblicke, als die Ersten wieder ihre Fahnen entrollten, sich nach und nach alle von ihren Sitzen erhoben, manch anderer sich an die Brüstungen lehnte und anfing zu singen.

Günter Preuß saß auf der Tribüne, als es langsam zu vibrieren anfing. Etwas weniger als fünfzig Jahre vorher hatte er den Meidericher SV als Kapitän zur Vizemeisterschaft geführt, 1966 trieb er die Herde durch den Pokal. Als sie gegen die Bayern im Finale standen, musste Günter Preuß verletzt am Seitenrand stehen, nach der Partie zollte er seiner Mannschaft gemeinsam mit 60.000 Menschen minutenlangen Applaus. Sie hatten gegen die Bayern 2:4 verloren, aber sie hatten gekämpft wie die Löwen. Vielleicht war es diese Erinnerung, die ihn dazu anhielt, sich von seinem Sitz zu erheben, aber vielleicht war es auch nur dieses „Meidericher SV“, immer wieder und minutenlang, immer lauter werdend an jenem Abend, als Trauer und Trotz dem Stolz weichen mussten.

Michael Bella saß nur ein paar Plätze weiter. 1966 hatte er unter dem Kapitän „Eia“ Krämer im Pokalfinale gestanden, im Pokalfinale 1975 gegen Eintracht Frankfurt war er gemeinsam mit Detlef Pirsig und Bernard Dietz für die Abwehr zuständig gewesen. Als der Regen den Rasen in braunen Morast verwandelte, hatten die Adler das Glück auf ihrer Seite und schossen das 1:0. Es war ein paar Jahrzehnte später, als Michael Bella in der Eckeseiner Arbeitshalle eine kleine Werkbank auf-Anpfiff stellte, damit „Eia“ Krämer dort seiner Arbeit als Dreher nachgehen konnte. „Ich hatte Eia viel zu verdanken“, wird er später dazu sagen. „Und wir wollten auf ihn aufpassen und ihm etwas zurückgeben.“

Kein Mensch weiß, was Michael Bella am Abend des Pokalfinales 2011 gedacht haben mag, in all jenen Augenblicken, als er verfolgen konnte, wie vor seinen Augen diese Kurve erwachte, als er mit dem Ohr diesem Gesang lauschen und mit den Augen diesem wachsenden Fahnenmeerfolgen konnte. Aber vielleicht dachte er an „Eia“ Krämer und sein erstes Finale, als er sich von seinem Sitz erhob, immer wieder dieses Lied, immer wieder und immer lauter.

Es war der Augenblick als ein junger Fan regungslos im Block stand und weinte, mitten in diesem „Weiter, weiter!“ und diesem „Kommt, alle jetzt, kommt!“ Zwei Tage vorher hatte er zum Hörer gegriffen und gesagt: „Haltet mich für verrückt, aber wir müssen die 1902 in die Choreo fürs Finale einbauen, egal wie...“, dann legte er auf. Nachdem er wusste, was er zu tun hatte, schloss er sich im Keller ein und schnittendlos lange Stunden, ließ die Sonne auf- und untergehen, immer wieder dieses Bild im Kopf und getrieben von nur noch einem Gedanken. Und jetzt konnte er sich der Freudentränen nicht erwehren , in jenen Minuten, als er sah, wie sich diese „1902“ nach und nach aus der Mitte eines blau-weißen Meeres zurück in den Berliner Nachthimmel schälte, als er nur dieses eine Lied hörte und auf dieses Fahnenmeerblickte.

Es ist der Moment, wo alle in den nicht enden wollenden Gesang einstimmen. Es ist der Moment, als Michael Bella, Ennatz Dietz und Günter Preuß auf der Tribüne stehen und jeder versteht, was gemeint ist. Es ist kaum zu beschreiben, was dort passiert, als die Seele des Meidericher SV ins Vibrieren gerät, als das Herzeinem leidenschaftlichen Rhythmus folgt, einer ganz einfachen Melodie: „Olé, olé...“

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