"Der erste harte, knackige Gegner"
In der Bundesliga scheint der FC Bayern unbesiegbar zu sein. Zum Glück gibt es die Champions League. Vor dem Duell mit Atlético Madrid schlägt Karl-Heinz Rummenigge ungewöhnlich leise Töne an.


Aus Madrid berichtet Christoph Leischwitz


Getty Images - Koke (l.) und Philipp Lahm

Nein, von Rache könne keine Rede sein, da sind sich die Spieler des FC Bayern München einig. "Man kann eine Halbfinalniederlage nicht mehr gutmachen, da ist man einfach ausgeschieden", sagte Kapitän Philipp Lahm am Dienstag, sechs Stunden nach der Ankunft in Madrid.
Fast auf den Tag genau fünf Monate ist es her, dass die Bayern 0:1 bei Atlético Madrid verloren und deshalb letztlich zum dritten Mal in Serie im Champions-League-Halbfinale scheiterten. Jetzt sind sie wieder hier: Im zweiten Gruppenspiel der Champions-League-Vorrunde müssen die Münchner in Madrid antreten (20.45 Uhr, High-Liveticker SPIEGEL ONLINE; TV: ZDF).

Sie sind uniform im schwarzen Anzug und mit dunklen Krawatten angereist, und mit reichlich Respekt: Es sei der erste harte, knackige Gegner in dieser Saison, sagt Lahm. Er muss diplomatisch formulieren, was alle denken: Die Bayern sind in den ersten acht Pflichtspielen der Saison nicht ernsthaft gefordert worden.
Auch ganz ohne Rachegelüste kommt dem Duell mit Atlético eine Bedeutung zu, die über ein normales Spiel in der Gruppenphase hinausgeht - nicht nur, weil die beiden Teams wohl den wichtigen Gruppensieg unter sich ausmachen. Dem FC Bayern standen zuletzt zum ultimativen Erfolg einzig und allein spanische Mannschaften im Weg: Real Madrid, Barcelona und Atlético verhinderten jeweils den Finaleinzug. Die aktuelle Frage lautet also: Wie weit ist das Team unter dem neuen Trainer Carlo Ancelotti schon gereift? Können sie diesmal die Spanier schlagen?

Bayern in der Rolle des Außenseiters?

Einerseits gefallen die Bayern sich in der Rolle des Außenseiters ganz gut, selten genug kommt es vor. "Wir werden versuchen, dass wir zumindest nicht verlieren", sagte der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge vor der Abreise. Andererseits ist auch Atlético der Respekt vor Ancelottis Fähigkeiten anzumerken, der zwischen 2013 und 2015 den Lokalrivalen Real Madrid trainierte. Er bewundere ihn für seine Ruhe, sagt Atlético-Trainer Diego Simeone.
Atlético pflege einen klaren Spielstil, sagt Ancelotti. Doch wenn er es sagt, hört es sich auch so an wie: Man weiß, was auf einen zukommt. Die Schwere der Aufgabe ist ihm jedenfalls nicht anzumerken. Auf der Pressekonferenz winkt er einem bekannten Reportergesicht zu, er streut kleine Witze ein. Es gehe darum, das gefährliche Konterspiel der Spanier zu verhindern.
Es geht aber auch darum, in der zuletzt selten geforderten Abwehr gedankenschnell zu sein. Als im ersten Halbfinale der Vorsaison Saúl Ñíguez nach einem sehenswerten Solo das frühe 1:0 für die Spanier erzielte, wollten die Bayern kein taktisches Foul begehen, und ließen ihn gewähren.

Schlüsselfigur Thiago

Thiago war damals einer der Spieler, die nicht eingriffen. Heute aber ist Thiago wichtig gegen eine Mannschaft wie Atlético, schon allein wegen seiner Übersicht und Ruhe. Zum Champions-League-Auftakt gegen den FK Rostow war er die Schaltzentrale, er verzeichnete in 70 Minuten 111 Ballkontakte. Ob Bayern noch besser werden kann, hat auch damit zu tun, ob Thiago noch besser werden kann.
Thiagos Ziehvater Josep Guardiola, der ihn vor drei Jahren nach München holte, sagte vorige Saison über ihn, er müsse noch lernen, wann er in wichtigen Partien den sicheren und wann den riskanten Pass spielen muss. Am Samstag in Hamburg entschied er sich genau richtig: Gegen eine gewöhnliche Spieleröffnung, für den riskanten Pass, es war der Schlüssel zum Sieg. Mit Blick auf das von Thiago mit verschuldete Gegentor in Madrid kann man anfügen: Er muss auch wissen, wann der riskante Zweikampf angesagt ist.

Der 25-Jährige konnte 2016 - abgesehen von einer kurzen Grippe - endlich einmal durchspielen, nachdem er zuvor immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen worden war. Insofern steht Thiago stellvertretend für andere Schlüsselspieler. Im Duell gegen Atlético im Frühjahr fehlte Arjen Robben ganz. Jérôme Boateng war gerade von einer Verletzung zurückgekehrt. Auch Franck Ribéry war damals nicht fit.
Stichwort Ribéry: Dass Thiago immer mehr zum Chef im Bayern-Spiel wird, kann man auch daran erkennen, wie er kürzlich den Franzosen verteidigte. Die zum "Wangenzwicker" (Rummenigge) heruntergespielte Tätlichkeit am vergangenen Samstag gegen den HSV-Spieler Nicolai Müller beim 1:0-Sieg fand Thiago offensichtlich nicht so schlimm. "Was haben Sie gegen ihn?", fragte er einen Reporter, Ribéry sei alt genug zu wissen, was er auf dem Platz machen darf.
Über Atlético sagt Thiago: "Sie verteidigen besser als wir, sie verteidigen besser als jede andere Mannschaft der Welt." Zumindest weiß man nach einem Spiel gegen die beste Verteidigung der Welt endlich einmal, wo man selbst gerade steht.

Quelle: spiegel.de


Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.
Alexander Freiherr von Humboldt (1769 - 1859)