Enke allein gegen alle

Der 96-Torwart spielt fehlerlos und kassiert dennoch sechs Gegentore: Wie lange tut er sich das noch an?



Von Christian Purbs

Bremen. Es gibt diese Momente, in denen selbst ein ruhiger und besonnener Spieler wie Robert Enke genug hat. Nicht mehr kann – und einfach auch nicht mehr will. Um es ganz deutlich zu sagen: Der 96-Kapitän hatte die Schnauze gestrichen voll. Drei Tore hatte der Torwart von Hannover 96 im Bundesligaspiel bei Werder Bremen schon kassiert, als Diego in der 82. Minute zum Elfmeter anlief. Enke fiel auf seinen raffiniert (arrogant?) getretenen Strafstoß-Lupfer in die Mitte des Tores nicht herein. Schon auf dem Weg in die rechte Ecke, machte er abrupt kehrt und lenkte den Schuss mit einer weiteren Glanztat in Richtung rechter Pfosten. Dort schnappte sich Diego erneut den Ball, passte ihn über die eigene Schulter vors 96-Tor, wo Ivan Klasnic ungestört zum 4:0 für Werder einköpfen konnte. Enke allein gegen alle – wieder einmal.

Das war zu viel, der Keeper drehte ab, ging wütend hinter das Tor und versetzte der Werbebande einen gehörigen Tritt. Der Frust musste sich irgendwie entladen, zu viel davon hatte sich zuvor angestaut. Wieder einmal hatten ihn seine Mitspieler im Stich gelassen, wieder einmal waren sie nicht da, als ihr Kapitän ihre Hilfe gebraucht hätte. „Das war sehr ärgerlich, weil ich den Elfmeter gehalten habe und wir trotzdem noch ein Tor bekommen haben“, sagte Enke nach dem Spiel.

„Sehr ärgerlich“ trifft es nicht ganz. Es war unverschämt, wie schlafmützig und undiszipliniert seine Vorderleute speziell in letzten 20 Minuten der Begegnung spielten. Während Enke nach dem Schlusspfiff seine Emotionen wieder unter Kontrolle hatte, regte sich Dieter Hecking umso mehr über das Verhalten seines Teams auf. „Man kann in Bremen auch vier, fünf oder sechs Tore bekommen. Aber es ist enttäuschend, wie unser Torhüter im Stich gelassen wurde“, sagte der 96-Trainer.

Für Enke ist das keine neue Erfahrung. Er selbst spielt seit Wochen, ja fast die ganze Saison über fehlerlos und kann dennoch nicht verhindern, dass sein Tor immer wieder zur Schießbude der Liga wird. 56 Gegentore sind bitter für einen herausragenden und ehrgeizigen Spieler wie Enke – und alles andere als ein Empfehlungsschreiben für die Nationalelf. Am Freitag gibt Joachim Löw seinen Kader für die Europameisterschaft bekannt. Enke hofft, als Ersatztorwart hinter Jens Lehmann beim Turnier in der Schweiz und Österreich dabei zu sein. Zwar hat der Bundestrainer zugesagt, Enkes Leistung „differenziert“ zu betrachten. Dennoch bleibt zu hoffen, dass Löw am Sonnabend nicht nur das Ergebnis zur Kenntnis genommen hat, sondern irgendjemand ihm auch eine Aufnahme mit Enkes Paraden auf den Schreibtisch gelegt hat.

„Für Robert tut es mir am meisten leid“, sagte Christian Schulz: „Für einen Spieler, der noch auf die EM hofft, sind sechs Dinger natürlich Mist.“ Nun ist Einsicht der erste Schritt zur Besserung, aber vielleicht kommt sie zu spät. Der VfB Stuttgart und der FC Bayern könnten einen Torwart mit Enkes Klasse gut gebrauchen. Und wenn der 30-Jährige eine Chance auf die Nachfolge von Lehmann als deutsche Nummer 1 haben will, dann wohl nur, wenn er mit seinem Verein auch international spielt. Mit Hannover ist das in der nächsten Saison nicht möglich. Enkes Vertrag bei den „Roten“ läuft zwar noch bis 2010 (plus Option), aber würde ihm wirklich jemand bei 96 Steine in den Weg legen, wenn er den Verein vorzeitig verlassen will?

In Bremen hat die Mannschaft Enke einen Bärendienst erwiesen – vielleicht aber auch sich selbst. Denn sechs Gegentore können sehr nachdenklich machen.