Letztes Bundesliga-Heimspiel von 96
Wir werden merken, was verloren geht
Das war es fürs Erste. Hannover 96 tritt am Sonnabend um 15.30 Uhr zum letzten Heimspiel in der Fußball-Bundesliga an. Ein persönlicher Blick zurück von der Tribüne von unserem Redakteur Gunnar Menkens.

Hannover. Der letzte Pfiff wird der Abpfiff sein, am Sonnabend gegen 17.15 Uhr im Stadion am Maschsee. Das Spiel ist aus, Hannover ist Absteiger. Fast 200-mal erschienen wir pünktlich zum Anstoß auf unseren elastischen blauen Sitzschalen. Unten von der Westtribüne rochen wir das frische Gras und hörten das satte Geräusch, wenn Fußballschuhe Kunststoffbälle stoppten. Wir liefen an eisigen Tagen frierend durch den Regen zur Arena und freuten uns über wenige Sonnentage pro Saison. Beinahe 200-mal spürten wir den Optimismus eines Spielbeginns, wenn auf dem Platz alles möglich schien. Jetzt ist Schluss mit Bundesliga. Nur einmal noch Hoffenheim.

Fußball gucken im Stadion konnte großartig sein. Brach ein Spieler durch zum fremden Tor, sprangen wir auf, mit Tausenden um uns herum. Stimmte der Einsatz, waren die Leute schon zufrieden. In Augenblicken voller Hoffnung waren wir die Stadt und der Verein und die Erinnerung an die großen Momente. Kopenhagen, Sevilla, die Europa League. Je großartiger die Stimmung und je größer der Gegner, umso mehr klatschten wir Beifall für nichts, gewonnene Einwürfe, eine Grätsche am Mittelkreis. Wir waren Teil einer Fanchoreografie mit Papier über unseren Köpfen. Erst im Fernsehen konnten wir sehen, wie schön es war. Zwei Jahre sahen wir in der Tabelle nach oben.

Aber zum Schluss stellte sich die Mannschaft immer seltener vor die Westtribüne, um gemeinsam mit uns die Arme zur Welle hochzureißen, weil Siege selten sind in Abstiegskämpfen. Ein Schock ist der finale Niedergang nicht mehr. Er wurde besiegelt in finsteren Monaten im Sternzeichen des Schaafs, das nicht für Ballbesitz stand, sondern für Erstarrung auf dem Feld und Fassungslosigkeit auf den Tribünen.

Jedes Spiel brachte Hannover 90 Minuten näher an den Abgrund. Zuschauer neben uns fragten, warum eine Mannschaft sich so hängen lassen konnte und warum erst ein neuer Trainer kommen musste, um sie aufzurichten. Aber wer will das wissen? Sie sind selbst verschuldet in Not geraten, das kann man sagen. Wir im Westen fühlten uns im Stich gelassen.

Am Sonnabend also kommt das Abschiedsspiel. Ausgerechnet gegen Hoffenheim, um einmal eine Fußballfloskel zu verwenden. Ausgerechnet. Hoffenheim ist ein Verein aus tiefer deutscher Provinz, ein Club, den ein Software­milliardär in diesem Jahr einen Schuss erfolgreicher päppelte als in Hannover ein reicher Mann aus der Hörgerätebranche und seine Partner. Martin Kind begleitete uns über die Jahre in den Halbzeitpausen, und es fiel schwer, den Mann zu verstehen. Großer persönlicher Einsatz, das erkannten alle an. Seine Reden predigten Effizienz, aber als er Leute hätte feuern sollen, ließ er sie gewähren. Er blieb ein Rätsel.

Jetzt fällt unsere zusammengewürfelte kleine Familie auseinander, die während eines Jahrzehnts auf der Tribüne entstand. Vor uns saßen ältere Herren in Fantrikots mit aufgeflockten Namen und Zahlen. Andi 50. Mutmaßlich der Geburtstag, an dem es ein Geschenk für Andi war. Keiner sang so schräg wie er. Neben ihm rauchte sein Kumpel Kette, Schmidt, lasen wir auf seinem Rücken. Er trug immer ein Lächeln im Gesicht, es sagte, das hier alles bloß Fußball ist. Zum Anstoß kamen sie stets mit einem Becher Bier, und stets kurz vor der Halbzeit ging Schmidt los und holte zweite Getränke, weil noch eine zweite Halbzeit kam. Die Erinnerung verblasst, nicht nur beim Fußball, aber es dauerte Jahre, bis wir nach Toren unsere Handflächen gegeneinander schlugen. Nicht dass wir uns in den Armen gelegen hätten, aber wir können sagen: Wildfremde Menschen klatschten sich ab.

Um uns herum wurden aus Kindern Jugendliche und manche von ihnen kamen nicht mehr wieder. Knaben riefen panisch mit schriller Stimme, was sie in der Woche zuvor im eigenen Fußballtraining gelernt hatten. „Zweiter Ball! Zweiter Ball!“ Mit den Leuten in der Reihe über uns dagegen hat es nie so recht gefunkt. Man grüßte sich im Unterrang, mehr nicht. Natürlich konnte es an uns selbst liegen, dass kein Kontakt zustande kam. Nicht immer sind die anderen schuld. Aber im Grundsatz ist es so: Zwei Reihen und fünf Sitzplätze entfernt beginnt das Ausland.

Im Laufe der Jahre entwickelten wir Gewissheiten, die über den Tag hinaus Bestand haben sollten. Krupnikovics Ecken würden auf Kniehöhe im gegnerischen Strafraum verenden. Robert Enke hält, was Menschen möglich ist, aber einem Menschen ist nicht alles möglich. Abdellaoue wird in diese Flanken rutschen. Die letzten Jahre dann waren nicht die besten. Oft saßen wir mit verschränkten Armen zurückgelehnt in unseren Flexi-Schalen und sahen runter auf den Platz, wo nichts geschah. Zeit zerrann endlos, ohne Aussicht auf Hoffnung; und noch eine halbe Stunde bis zum Schluss. In den letzten Partien riefen wir Namen von jungen Spielern, die wir nicht kannten. „Sahnsenbaräng“, wenn Sarenren-Bazee gemeint war.

Man konnte viel lernen in der Menge. Wie sehr der Wille zum Verzeihen davon abhing, welchen Ruf ein Spieler hat. Wie sehr manche Leute Sündenböcke brauchten im eigenen Team, wenn es schiefläuft an einem Tag. Massenpsychologisch fiel auf, dass manche Gästefans die ins Stadion geschrieene Parole „Steht auf, wenn ihr aus Dingsbums seid“ erst befolgten, wenn genug andere Dingsbumser es bereits taten. Und es gab ungezählte Spiele, die bald nach Anpfiff verloren waren und nach Hopfen und Malz verlangten, während die Stadionregie bedingungslos schönfärberische Statistiken einblendete. Angekommene Pässe: 85 Prozent. Spielstand in Wirklichkeit: nullzudrei. Propaganda ist, wenn das Offenbare niedergeschwätzt wird. Es wurde oft gesagt, dass Fußball und Leben eins sind. Es stimmt.

Am Sonnabend, gegen 17.15 Uhr. Es wird seltsam in den Minuten vor dem letzten Pfiff. Wir werden merken, was verloren geht. Aber wir kommen wieder. Später.


Quelle: www.haz.de