Sven Ulreich

Die Konstante beim VfB



Karim Matmour legte alles in diesen einen Kopfball. Es lief die letzte Minute der Nachspielzeit, der VfB führte 2:1, Eintracht Frankfurt drängte auf den Ausgleich. Matmour rammte den Kopf gegen den Ball, und ein paar Meter weiter startete Sven Ulreich zu einer Flugschau. Es war nicht seine erste in diesem Spiel, aber seine spektakulärste. Ulreich streckte sich und flog und flog, und mit den Fingerspitzen lenkte der Schlussmann den Ball ins Aus. Das war klasse, weil ihm die Sicht verstellt war und weil, wie er sagte, „der Ball noch blöd aufgesetzt hatte“. Aber bezeichnend für die Nummer eins des VfB war erst die folgende Szene. Ulreich blieb voll konzentriert, „weil ich dachte, es gibt Eckball“. Ulreich hatte den Tunnelblick, er hatte nur Augen für den Ball und die Situation, blendete Stadion und Fans aus. Zur Besinnung kam er erst, als die Mitspieler sich mit Jubelgeschrei auf ihn stürzten. Sekunden nach seiner Parade, noch vor dem Eckball, war das Spiel aus, der Sieg perfekt. Da fühlte auch Ulreich „nur noch Erleichterung“.

Ulreich, der Mann ohne Nerven.

„Er hat uns den Sieg festgehalten“, sagte Manager Fredi Bobic und atmete tief durch. Der VfB hat diese Saison in rasanter Abfolge Höhen und Tiefen erlebt, mitunter in einer einzigen Woche wie der vergangenen: top in Hamburg (1:0), Flop gegen Kopenhagen (0:0), top gegen Frankfurt. Die Kunst besteht nun darin, das hohe Niveau zu konservieren. Das gelingt bisher nur einem: Sven Ulreich. Insofern kann er ein Vorbild sein.

„Ulle“, ist eine Marke

„Wenn wir 100 Prozent abrufen, sind wir nur schwer zu schlagen“, sagt Trainer Bruno Labbadia. Aber immer 100 Prozent – geht das überhaupt? Bei Sven Ulreich (24), genannt „Ulle“, offenbar schon.

„Ulle“, ist eine Marke. Mit seinem Spitznamen „Ulle“ unterschreibt Ulreich sogar, wenn er Autogrammwünsche erfüllt. „Ulle“ steht für Zuverlässigkeit, Souveränität und sicheres Auftreten. Das war nicht immer so – ­worin ein Teil seines jetzigen Erfolgs liegt.

2008 feierte er im Alter von 19 Jahren sein Debüt im VfB-Tor, als er den formschwachen Raphael Schäfer ablöste. Natürlich machte er Fehler, war unsicher. Armin Veh, der Trainer, verzieh das nicht. Er degradierte ihn.

2011 nahm ihn Bruno Labbadia vor dem Europa-League-Rückspiel gegen Benfica Lissabon aus der Mannschaft. Marc Ziegler rückte auf, verletzte sich gegen die Portugiesen, Ulreich sprang wieder ein – und seither hält er immer gut, häufig überragend und zuweilen weltklasse. Wie am Sonntag gegen Karim Matmour. Oder wie damals gegen Eintracht Frankfurt, dem Spiel nach Lissabon. Der VfB gewann 2:0, Ulreich hielt wie ein Weltmeister. Das war sein Durchbruch.

Ulreichs Antrieb: sein schier unbändiger Ehrgeiz

Er hätte an der Degradierung zerbrechen können. Das tat er nicht. Stattdessen münzte er seine Wut in Trotz um: „Ich habe mir gesagt: Ich will allen in jedem Training zeigen, was ich kann. Dass ich besser bin, als man mich sieht. Dass ich gut genug für die Bundesliga bin.“ Irgendwann hatte er akzeptiert, „dass ich ein bisschen mehr tun muss als andere. Ich muss mit Topleistungen überzeugen, um anerkannt zu werden.“

Gesagt, getan. Ulreich macht(e) Extraschichten. Am Morgen vor jenem Spiel gegen Benfica trainierte er für sich allein, weil er gar nicht an einen möglichen Einsatz dachte. Am Abend hatte er schwere Beine und spielte trotzdem stark. Körperstabilität und Sprungkraft holt sich der Schorndorfer durch regelmäßige Übungen im Kunstturnforum. Sein Antrieb war und ist sein schier unbändiger Ehrgeiz. Seine Bodenständigkeit verhindert, dass er abhebt. Seine innere Ruhe ließ ihn dem Druck standhalten, als wochenlang über ihn und die Konkurrenzsituation mit Bernd Leno diskutiert wurde. Und in Andreas Menger weiß er beim VfB einen Torwarttrainer hinter sich, der ihn fachlich auf Topniveau gehievt hat, menschlich mit ihm harmoniert und ihm uneingeschränktes Vertrauen entgegenbringt.

Nun ist ein Torhüter nur bedingt mit einem Feldspieler zu vergleichen. Beim Schlussmann liegen Himmel und Hölle so nah wie bei keinem anderen beisammen, jeder Profi hat seinen eigenen Antrieb, seine eigene Verantwortung und seinen eigenen Charakter. Ehrgeizig sind auch Ulreichs Mitspieler beim VfB, und ein Andy Menger kann sich nicht auch um die Stürmer und Verteidiger kümmern.

Unbedingte Fokussiertheit auf den einen und einzigen Augenblick

Was seine Vorderleute von Ulreich aber abschauen können, ist dessen unbedingte Fokussiertheit auf den einen und einzigen Augenblick, auf den es immer wieder ankommt. Ulreich weiß: Wenn er diesen oder jenen Ball schleichen lässt, dann landet er im Tor, verhindert den Sieg oder zementiert die Niederlage. Dieses Wissen muss in die Köpfe aller Spieler. Und wenn die jüngsten Anzeichen nicht trügen, dann ist dieser Prozess beim VfB gerade im Gange. Der leidenschaftliche Auftritt gegen Frankfurt jedenfalls unterstrich die Antwort, die Christian Gentner nach den 90 Minuten auf die Frage gab, was die Mannschaft denn im Vergleich zum katastrophalen Saisonstart nun verinnerlicht habe: „Wir haben jetzt das Bewusstsein, dass es im Spiel auf jede Kleinigkeit ankommt, dass jeder Zweikampf der letzte sein kann, bevor der Ball im eigenen Tor einschlägt.“

Solche Duelle zu gewinnen, ob in der ersten Minute oder in der Nachspielzeit, zeugt von Motivation, Ehrgeiz, Teamgeist und von Professionalität. Denn jede Taktik ist nur so gut wie die Fokussiertheit des Einzelnen auf das Spiel und auf die Situation. Frag’ nach bei Sven Ulreich.

Quelle: Stuttgarter Nachrichten


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