Abstieg des VfB Stuttgart

Eine neue Liga ist wie ein neues Leben

Schluss jetzt mit der Stuttgarter Abstiegsdepression. Abstieg war gestern, heute ist Aufstieg. Die zweite Bundesliga ist gar nicht so schlecht, wie alle sagen. Deshalb hier elf Gründe, sich auf die neue Saison zu freuen.


Dunkle Wolken über dem VfB Stuttgart: Der Verein ist abgestiegen.


1. Siege:

Das Lied „Verdammt, ich sieg` nicht, ich sieg’ einfach nicht“ ist in den vergangenen Jahren ja die inoffizielle Hymne des VfB geworden. Jahre des sportlichen Überlebenskampfes liegen hinter uns, spaßbefreite Zeiten ohne Erfolgserlebnisse, dafür mit ganz viel Frust. Nach all der Zeit der Niederlagen wächst in Stuttgart und Umgebung eine Generation heran, die gar nicht mehr weiß, dass es auch schön sein kann, VfB-Fan zu sein. Kinder, die nicht mehr wissen, wie es ist, wenn ein Verein oben mitspielt oder mal ein paar Spiele in Serie gewinnt. Die zweite Liga ist die Chance für den VfB auf tolle Siege und als Goliath wahrgenommen zu werden. Mir sen mir! Natürlich ohne großkotzig zu sein, sondern in aller schwäbischen Bescheidenheit. Quasi der FC Bayern der zweiten Liga – in Sympathisch.


2. Derbys

Die zweite Liga schwätzt Schwäbisch. Und Badisch. Und zwar mit Karlsruher Zungenschlag. Letzteres ist wichtig nach Jahren des mühevoll (und erfolglos) herbeigeredeten Derbys gegen die TSG Hoffenheim. Oder jenen Spielen hin und wieder gegen den SC Freiburg, die auch nur so halb emotional sind. Es gibt eben nur ein wahres Spiel, das die Fans bewegt (bisweilen etwas zu sehr, was wiederum leider die Polizei sehr stark bewegt): das Derby gegen den KSC. Baden gegen Schwaben. Karlsruhe gegen Stuttgart.
Und das gibt es jetzt endlich wieder (leider, aus Sicht der Polizei). Dazu kommen noch Sandhausen und Heidenheim. Und mit Sandhausen ist ja bekanntlich noch eine Rechnung offen: 1995 unterlag der VfB dort 14:15 nach Elfmeterschießen im DFB-Pokal. Zeit für die Revanche.


3. Ehrlicher Fußball

Hacke-Spitze-Trallala. Tiki-Taka. Balla-Balla. Alles Gaga-Gaga. Endlich geht’s wieder um Fußball, ohne all das intellektuelle Gerede und die Debatten auf Metaebene über falsche Achter, abkippende Sechser und volllaufende Fünfer. Die zweite Liga steht für ehrliches Kicken. Für Grätschen. Für Einsatz. Für Leidenschaft. Für Abendspiele in hitziger Atmosphäre in engen Stadien. Für rustikale Härte, aber auch etwas Spielkultur (im Idealfall vom VfB). In der zweiten Liga sind noch wahre Typen zu Hause, keine Rastellis, sondern ehrliche Arbeiter wie einst Willi Landgraf, „Mister 2. Liga“ mit 508 Zweitligaspielen und null Erstligaeinsätzen. „Um ehrlich zu sein: Ich hatte nie ein Angebot.“ So ist die zweite Liga. Offen. Ehrlich. Geradeheraus. Ohne Chichi. Bratwurst statt Scampi.


4.Preise

Geiz ist geil. Und für den preisbewussten schwäbischen Fußballfan ist die zweite Liga ein Segen für die Haushaltskasse, ein indirektes Konjunkturpaket. Die Bratwurst? Kostet in der Hälfte der Stadien unter drei Euro, im Schnitt liegt sie laut Zahlen von 2015 bei 2,80 Euro (Bundesliga: 3 Euro). Den Liter Bier gibt es für 7,60 Euro (Bundesliga: 8,10 Euro) – und der Eintritt ist natürlich auch günstiger. Stehplatzkarten bewegen sich zum Beispiel zwischen 10 Euro und 14,50 Euro.
Auch der VfB wird nicht mehr die Ticketpreise aufrufen können wie bisher, einziges Manko eventuell: Mitreisende VfB-Fans werden möglicherweise in den fragwürdigen und vor allem ungewohnten „Genuss“ kommen, auf einmal einen Topzuschlag für eine Partie des VfB in der Fremde zahlen zu müssen.


5. Traditionsvereine

Ist die Bundesliga nicht toll? Wolfsburg. Ingolstadt. Augsburg. Mainz. Darmstadt. Red Bull. Hoffenheim. Klingt so prickelnd wie eine Flasche Hirschquelle. Entsprechend spannend für den neutralen Zuschauer sind viele Paarungen. Aus gut unterrichteten Kreisen ist bereits zu hören, dass in einigen Krankenhäusern jetzt Bundesligaspiele in OP-Sälen gezeigt werden, um sich den Anästhesisten zu sparen.

Die zweite Liga? Lautern! 1860! Fortuna! Bochum! Union! Dynamo! Klasse. In Masse. Tradition. In Masse. Und was weder Tradition noch Klasse hat, ist wenigstens ein Derby (siehe Punkt 2). Und was weder Tradition noch Klasse hat oder auch kein Derby ist, gehört halt auch dazu. Und für die Fußballultras unter uns: Das Hassobjekt RB Leipzig bleibt den Fans vorerst auch erspart, die Brause-Bullen tauschen ja bekanntlich mit dem VfB die Liga.


6. Stadien

Wenn man ehrlich ist, spielt die Bundesliga architektonisch in der Kreisklasse. Die meisten Stadien sind so einzigartig wie ein Billy-Regal von Ikea. Stadien von der Stange nach dem Baukastenprinzip, die alle gleich aussehen. Sie sind sich so ähnlich, dass man als Zuschauer gerade nicht weiß, ob man in Augsburg, Mainz, Hoffenheim oder Ingolstadt ist. Neumodische Klötze eben, die, wenn man es nett ausdrückt, funktionell sind – und städtebaulich so kreativ wie der Stuttgarter Asemwald.

Als Fan kann man sich deshalb in der zweiten Liga auf viele Stadien mit Charakter freuen, auf Spielorte wie die Alte Försterei in Berlin, den Betzenberg in Kaiserslautern, das Stadion am Millerntor in St. Pauli oder das Erzgebirgsstadion in Aue. Dort lebt nicht nur der alte Holzmichel, sondern auch der Fußball.


7. Neuland

Der VfB hat 104-mal gegen Werder Bremen gespielt. Gegen Erzgebirge Aue? Nullmal. Man kann sich jedes Jahr „Dinner For One“ anschauen, aber jedes Jahr zweimal gegen die immer gleichen Mannschaften zu spielen? Eine Pause ist überfällig. Die zweite Liga öffnet uns allen den Horizont, endlich geht es mal in neue Orte, es geht gegen neue Vereine, kurzum: Wir werden endlich aus unserem erstklassigen Trott herausgerissen und müssen uns auf Neuland einstellen. Das löst Verkrustungen und hält geistig fit. Die zweite Liga ist wie eine Bildungsreise für uns alle. Wer weiß schon spontan, wo Aue liegt? Oder wer kann spontan mehr als 13 aktuelle Zweitligaspieler aufzählen oder sechs Trainer? Und wer wusste bis vor Kurzem, dass es den Ort Bielefeld wirklich gibt? Eben.


8. Fernsehen

Zugegeben, die Nachricht klingt im ersten Moment nicht allzu verlockend, dass von der neuen Saison an der VfB mutmaßlich regelmäßig im Free-TV zu sehen sein wird. Jahrelang hat der VfB unter dem Deckmantel von Sky versteckt gespielt, also unter Ausschluss der ganz großen Öffentlichkeit, und das war ja nicht zum Schaden angesichts der Darbietungen, aber: In der neuen Runde wird der VfB voraussichtlich regelmäßig am Montagabend live im Zweitliga-Topspiel auf Sport 1 zu sehen sein. Und wir hoffen ja, dass die Auftritte künftig nicht mehr unter dem Aspekt Voyeurismus zu betrachten sind, sondern es einen freudvollen und unterhaltsamen Neuanfang gibt. PS: Und endlich wieder können alle Fans wenigstens ab und an für umme dabei sein (siehe auch Punkt 4 Preise).


9. Peter Neururer

Machen wir nicht lang rum, direkt rein in die Peter-Neururer-Welt: „Wenn wir ein Quiz machen würden unter den Trainern in Deutschland, wer am meisten Ahnung hat von Trainingslehre, Psychologie, und der Trainer mit den besten Ergebnissen kriegt den besten Club – dann wäre ich bald bei Real Madrid.“ Oder vor Jahren auf die Frage nach einem TV-Engagement nach seiner Trainerkarriere: „Bei meiner versteckten Hasenscharte und den ganzen Sprachfehlern bleibe ich lieber in dem Metier, in dem ich mich auskenne.“

Peter Neururer ist aktuell TV-Experte bei Sport 1 für die zweite Liga. Neururer ist halt Kult, eine echte Type und immer gut für Sprüche – anders als die netten, aber nichtssagenden Experten à la Hitzfeld eine Etage höher. In Sachen TV-Experten ist die zweite Liga erstklassig.


10. Kein FCB

Ganz ehrlich, wem ging das nicht alles auf die Nerven, diese Super-super-Bayern und dieser ganze Münchner Mist. In der ersten Liga dreht sich alles nur um den FCB, der sich zum Meister langweilt, was so spannend ist wie Frauenrodeln. Endlich gönnen wir uns auch mal ein Jahr ohne das Gerede vom Südgipfel und wie er früher so war und die darauf immer folgende ­Niederlage. In Liga zwo gibt’s nur noch die Bonsai-Bayern von 1860, die sind so arm dran wie der VfB, wobei, nein, die sind noch viel ärmer dran, weil die die Super-super-Bayern ja auch noch im Vorgarten haben. Ach, wie schön wird das sein, endlich einmal in einer Liga ohne das ganze Mia-san-mia-Geschwätz, ohne Karl-Heinz Rummenigge und ohne die bayerische Experten-Schickeria auf allen Kanälen zu Hause zu sein.


11.Darum halt

Natürlich ist die zweite Liga nicht die Krone der Schöpfung, wir sind ja nicht blöd. Natürlich gäbe es Besseres als ein Jahr im Unterhaus. Zum Beispiel eine weitere Saison in der Erstklassigkeit. Es wäre viel schöner, sich weiter mit all den Großen der Zunft zu messen, mit den Bayern, mit dem BVB, mit Schalke und all den anderen. Nur: Das wird jetzt eben erst mal nichts (es sei denn im Pokal).
Klingt blöd.

Ist blöd.

Ist aber jetzt halt so.

Was sollen wir machen? Wir müssen uns die Zweitklassigkeit jetzt halt schönschreiben. Und das Beste daraus machen. Und so schlimm wird es auch nicht werden. Das wird schon. Man gewöhnt sich an alles. Am 5. August geht’s los.

Noch 34 Spieltage bis zur Bundesliga.

Quelle: Stuttgarter Nachrichten


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