Stuttgarts drohender Abstieg:

Wärt ihr doch ein wenig kölscher gewesen

Zu wild, zu naiv: Der VfB steigt wohl ab, weil sich der Klub jahrelang selbst überschätzt hat. Beim ewig kriselnden Ligakonkurrenten Köln haben die Verantwortlichen aus diesem Fehler längst gelernt.


Christian Gentner

Unter besonders raffinierten Freunden des 1. FC Köln wird derzeit beim Blick auf die Tabelle ein wenig getrauert. Der eigene Klub hat zwar eine überaus erfreuliche Saison hinter sich, doch wenn am Samstag kein mittelschweres Wunder geschieht, wird ein liebgewonnener Gegner aus der Bundesliga verschwinden. Seit vielen Jahren können die Kölner nämlich fest mit drei Punkten rechnen, wenn die Partie beim VfB Stuttgart ansteht - nächste Saison werden sie wohl auf dieses Geschenk verzichten müssen.

Aber nicht nur deshalb lohnt es sich noch einmal an den jüngsten Erfolg des FC in Stuttgart zurückzudenken. Damals, am ersten Spieltag der zu Ende gehenden Saison, war der VfB hinreißend gut, die Mannschaft spielte schnell, technisch komplex und mutig. Doch am Ende stand es 3:1 für die nüchternen Kölner, die den kunstvollen Fußballwirbel stoisch ertragen hatten, und dann ganz und gar unaufgeregt zuschlugen.

Dieser gelassene Pragmatismus ist zum Erfolgsrezept der Rheinländer geworden. Und eine Eigenschaft, die in der überreizten Fußballstadt Stuttgart vollkommen verkümmert ist. Man kann heute einen Konjunktiv formulieren, der vor vier Jahren noch wie eine wirre Fieberfantasie geklungen hätte: Wäre Stuttgart ein klein wenig kölscher, wäre der VfB wohl längst gerettet.

Erfolgsformel: Die defensive Grundlage muss stimmen

Wenn man so wil,l haben die Stuttgarter einen Punkt erreicht, der in Köln beim letzten Abstieg 2011 überwunden wurde. "Wir haben uns beim VfB dafür entschieden, in den nächsten Jahren einen bestimmten Weg zu gehen", hat Sportdirektor Robin Dutt diese Woche in der "Stuttgarter Zeitung" gesagt, zur Not auch durch eine Zeit in der zweiten Liga. Dutts Plan sieht vor, den VfB wieder jung und wild zu machen, doch der Sportdirektor hat offenbar übersehen, dass die Auferstehung kriselnder Großklubs fast immer einem anderen Muster folgt.

2011 rettete Trainer Lucien Favre Borussia Mönchengladbach durch eine akribische Detailarbeit am Defensivverhalten vor der Zweitklassigkeit. Als wilde Offensivmannschaft glänzte das Team erst in dieser Saison unter André Schubert. Hertha BSC Berlin wurde mit einem hingebungsvollen Defensivfußball zu einem Europa-League-Teilnehmer, und die Kölner gingen einen ähnlichen Weg: Erst wenn die defensive Grundlage stimmt, kommt die Zeit, offensiver zu spielen.

Der Abstiegskandidat Stuttgart begann die Saison hingegen mit dem Offensivdogmatiker Alexander Zorniger. Das war ähnlich naiv, wie den Kader mit brillanten Angreifern zu bestücken und die seit Jahren herumstümpernde Defensive nur halbherzig zu verstärken. Das war jung und wild, aber nicht erfolgreich, und die Haltung dahinter erinnert frappierend an die Hybris, die vor Jahren auch den 1. FC Köln kennzeichnete. Es fällt ehemaligen deutschen Meistern aus fußballbegeisterten Metropolen offenkundig extrem schwer, ein realistisches Selbstbild zu entwickeln.

Köln hat gelernt: Selbstüberschätzung war das Problem

In Köln holten Präsident Wolfgang Overath (Weltmeister mit Deutschland) und Manager Michael Meier (Champions League-Sieger mit Dortmund) einst Lukas Podolski (Superheld) zurück und stellten ihm alternde Weltstars wie die Portugiesen Maniche und Petit zur Seite. Sie verpflichteten den schillernden Trainer Christoph Daum (Messias). Immer im festen Glauben, dass der FC nur aufgrund einer seltsamen Laune des Fußballgotts zur Fahrstuhlmannschaft geworden war und ganz sicher schon sehr bald wieder dort landen würde, wo er hingehört: auf der europäischen Bühne.

Erst der beleidigte Rücktritt Overaths, der fünfte Abstieg und eine gefährliche finanzielle Schieflage im Jahr 2011 führten zu einem echten Undenken. Inzwischen ist eine Kultur der Demut entstanden, die dem VfB fehlt. Vermutlich empfinden die meisten Stuttgarter immer noch großen Widerwillen, wenn man sie auffordert, sich den einstmals chaotischen und inzwischen etwas langweiligen 1. FC Köln zum Vorbild zu nehmen. Genau diese Selbstüberschätzung ist ein Problem.

Noch vor eineinhalb Jahren wäre Thomas Tuchel gerne zum VfB gekommen, der gebürtige Schwabe stellte während seines Sabbatjahres ein Konzept in Stuttgart vor. Angeblich war auch Dieter Zetsche, der Chef des wichtigsten Sponsors Daimler AG, zugegen. Die Herren fanden Zornigers Visionen überzeugender.

Leute aus der Wirtschaft, die sich in fußballfachliche Belange einmischen, sind eines der gefährlichsten Gifte in der Bundesliga, man kann das beim FC Schalke sehen. Und in Stuttgart, wo der damalige Arbeitgeberpräsident und VfB-Aufsichtsratschef Dieter Hundt einst über den wichtigen Posten des Sportdirektors sagte: "Das kann bei mir auch der Pförtner."

Ein Abstieg bietet nun tatsächlich die Chance zu einer echten Erneuerung, dass Trainer Jürgen Kramny und Dutt im Sommer ersetzt werden, ist so gut wie sicher. Aber ob dann die richtigen Leute gefunden werden, um das Problem mit der fehlerhaften Selbsteinschätzung zu lösen, bleibt höchst ungewiss. Der 1. FC Köln musste fünfmal absteigen, bis es so weit war.

Quelle: Spiegel.de


Mummi [Linked Image]