VfB vs KSC und Co.

Das Derby: Die Mutter aller Spiele

Wenn Stuttgart an diesem Wochenende in Karlsruhe und Schalke in Dortmund gastieren, dreht sich vieles um das Thema Sicherheit. Dabei könnte man fast vergessen: Duelle zwischen benachbarten Fußball-Clubs sind mit das Faszinierendste, was der Fußball zu bieten hat.


Bei Derbys geht es mehr um 3 Punkte. Bei Derbys darf und soll auch gestichelt werden.
Hass zu schüren, wäre aber fatal.

Koslowski wird im nächsten Februar 80 und gilt auf Schalke als lebende Legende. Der frühere Nationalspieler und gelernte Bergarbeiter war Mitglied der letzten königsblauen Meistermannschaft von 1958, sein Geld verdiente er in einer Glashütte neben der Glückauf-Kampfbahn. Bis heute ist Koslowski ein beliebter Gesprächspartner zum Thema Fußball im Revier und erzählt gerne die Derbygeschichten von früher. Wenn zu seiner aktiven Zeit Schalke 04 auf Borussia Dortmund traf, „dann gab’s im Spiel erst Feuer und anschließend ein gemeinsames Pilsken“. An der Theke des Schalker Clubheims seien damals alle friedlich vereint gewesen, die Spieler beider Mannschaften, die Fans, ja sogar der Schiedsrichter.

Heutzutage ist alles viel komplizierter – Feuer gibt es nicht mehr allein auf dem Spielfeld. Große Fußballderbys sind zu Hochrisikospielen geworden, im Ruhrgebiet, in Baden-Württemberg und an vielen anderen Orten auf der Welt. Wenn der BVB an diesem Samstag (18.30 Uhr) den ewigen Erzrivalen aus Schalke empfängt, greift ein vor zwei Jahren verschärftes Sicherheitskonzept, das erneute Ausschreitungen verhindern soll. Und auch die Polizei in Karlsruhe bereitet sich auf einen Großeinsatz vor, damit es rund um das Gastspiel des VfB Stuttgart am Sonntag (13.30 Uhr) nicht wieder zu wüsten Prügeleien rund ums Wildparkstadion kommt.

Es ist in den vergangenen Tagen und Wochen so viel über das Thema Sicherheit und Gewalt diskutiert worden, dass man fast vergessen konnte: Derbys gehören noch immer zum Faszinierendsten, was der Fußball zu bieten hat. Es gibt für die Beteiligten wenig Wichtigeres und Emotionaleres als dieses Duell zweier benachbarter Mannschaften. Da spielt es im Grunde genommen keine entscheidende Rolle, ob Oberparkstetten und Unterparkstetten um die Dorfmeisterschaft kämpfen oder Real Madrid und Atletico um den Titel in der Champions League. Am Ende läuft es immer darauf hinaus: wer ist der Platzhirsch im gemeinsamen Revier?


Der Begriff „Derby“ wird inflationär benutzt

Im englischen Ashbourne, so ist es überliefert, standen sich im Mittelalter jedes Jahr rund um Aschermittwoch jeweils hunderte von Bewohnern der Ober- und der Unterstadt gegenüber. Zwei Tage lang versuchten sie, einen mit Kork gefüllten Ball in einem der beiden Tore unterzubringen, die mehrere Kilometer voneinander entfernt lagen. Shrovetide-Fußball nannte sich dieses rugbyartige Spiel in der Grafschaft Derbyshire, das als Ursprung dessen gilt, was man heute als Derby bezeichnet.

Es ist ein Begriff, der in der Bundesliga inflationär benutzt wird. Immer ist von einem Derby die Rede, wenn zwei Mannschaften gegeneinander spielen, die im weitesten Sinne etwas miteinander zu tun haben, ob nun regional oder nur tabellarisch. Zum Südderby wurde das Duell zwischen dem FC Bayern und dem VfB ernannt, als die Stuttgarter noch ein ernst zu nehmender Bundesligist waren. Gar den Begriff Nord-Süd-Derby erfand man in den 1980er-Jahren für das Gipfeltreffen zwischen den Bayern und Hamburger SV, ehe auch der Liga-Dino hoffnungslos den Anschluss verlor.

Erledigt haben sich bedauerlicherweise auch waschechte und einst hochbrisante Traditionsderbys wie das Münchner Stadtduell zwischen dem Arbeiterverein 1860 und dem bürgerlichen FCB, der seinen Anhang schon früher nicht zuletzt aus dem Umland rekrutierte. Jene Derbys, die übrig geblieben sind und diese Bezeichnung auch verdienen, genießen dafür immer größer werdende Bedeutung. Das gilt zwar höchstens bedingt auf Seiten der Spieler, die mal hier und mal dort ihr Geld verdienen und manchmal sogar die Seiten wechseln. Dafür aber umso mehr auf Seiten der Fans, die sich ihrem Club lebenslänglich und bedingungslos verschrieben haben.

Eine ganze Stadt, eine ganze Region und manchmal auch ein ganzes Land wird von diesen Spielen in Atem gehalten, nicht nur in Deutschland: vom „Old Firm“ in Glasgow etwa mit seiner konfessionellen Bedeutung, vom Klassenkampf des „Superclásico“ in Buenos Aires, von den glühend heißen südeuropäischen Stadtderbys in Istanbul, Mailand, Belgrad oder Athen.


„Es wäre fatal, den Hass zu schüren.“

In all diesen Duellen der Extreme geht es um viel mehr als nur um drei Punkte. Ein einziger Treffer genügt manchmal, um einen Spieler vom Fehleinkauf zum Superhelden zu machen; ein Sieg reicht, um aus einer missratenen Saison binnen 90 Minuten eine erfolgreiche werden zu lassen. Und dem Schiedsrichter, dem ein spielentscheidender Fehler unterläuft, wird empfohlen, sich lieber nicht mehr blicken zu lassen.

Kein Widerspruch ist es, dass die Globalisierung der Welt voranschreitet, die lokalen Derbys gleichzeitig aber immer bedeutsamer werden. „Das eine hat mit dem anderen zu tun“, sagt der Würzburger Sportwissenschaftler und Fanforscher Harald Lange: „Gerade weil wir zunehmend globaler denken, hat das Spiel vor der Haustür einen viel größeren Stellenwert. Die Fans sehen das als Kontrast zur großen weiten Welt.“

Zwar beobachtet auch Lange mit Sorge die unschönen Begleiterscheinungen rund um emotional überladene Derbys wie in Dortmund oder in Karlsruhe. Trotzdem gelte es, diese Brisanz und Rivalität auch künftig aufrechtzuerhalten: „Schließlich sind das für alle Beteiligten hochattraktive Spiele, die sehr genossen werden.“ Ein „uraltes Sportprinzip“ sei es, dass „Wettkämpfe gegen einen ganz besonderen Gegner einen ganz besonderen Reiz haben“.

Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich die an einem Derby beteiligten Vereine bewegen. Auf der einen Seite müssen und wollen die Verantwortlichen die Folklore und die Tradition der gegenseitigen Abneigung sorgsam pflegen. „Das ist total wichtig. Spitze Bemerkungen und Sticheleien in Richtung des Gegners sind daher durchaus erlaubt und auch erwünscht“, sagt Lange. Auf der anderen Seite jedoch ist auch dem Fanforscher klar, „dass unbedachte Äußerungen zur Eskalation führen können. Es wäre fatal, den Hass zu schüren.“

Ein von gegenseitigem Respekt geprägter Umgang sei nötig – ihn stellt Harald Lange trotz aller Gefühlswallungen bei Derbys in aller Welt fest. Ein „durchgängig beobachtbares Phänomen“ sei es, „dass keiner ein Interesse daran hat, den anderen kaputt zu machen“. Denn jeder wisse, dass er den ungeliebten Nachbarn auch noch im nächsten Jahr brauche, beim nächsten Derby, das die Massen elektrisiert.

Für den BVB und Schalke mag das zutreffen, für den VfB nicht. Möglichst schnell wollen die Stuttgarter aufsteigen und den KSC in Liga zwei zurücklassen. Zumindest die Sicherheitskräfte in beiden Städten werden inständig hoffen, dass sich die Wege wieder trennen. Das Rückspiel bleibt ihnen trotzdem nicht erspart.


Die brisantesten Stadt-Derbys im Fußball

Das Duell zwischen den Boca Juniors und River Plate in Buenos Aires, der „Superclásico“, gilt als das heißblütigste Derby im Weltfußball. 70 Prozent der Argentinier sind Fans einer der beiden Mannschaften – wenn sie aufeinandertreffen, befindet sich das ganze Land im Ausnahmezustand. Hier die Boca Juniors aus dem Hafenort La Boca, die „Bosteros“ (Müllsammler), die sich dem bedingungslosen Kampf verschreiben; da die „Millionarios“ von River Plate aus dem Reichenviertel Nunez mit ihrem eleganten und technisch anspruchsvollen Spiel. Selten bleibt es friedlich in diesem Duell der Gegensätze, in dem die Gewalt in der Vergangenheit regelmäßig eskaliert ist: So wurden 1994 zwei River-Plate-Fans ermordet, nachdem ihr Team mit 2:0 gewonnen hatte. Der Kommentar eines vermummten Boca-Anhängers: „Empatamos“ (Wir haben ausgeglichen).

Glasgow, Schottland

Kein Derby in Europa ist öfter ausgetragen worden, keines brisanter als das „Old Firm“, das heilige Duell in der schottischen Hauptstadt. Mehr als 400-mal standen sich Celtic Glasgow und die Glasgow Rangers bislang gegenüber. Hier die protestantischen Rangers, dort Celtic, der katholisch geprägte Verein der irischen Einwanderer – es geht um viel mehr als nur Fußball. Zur Sicherheit schenken die Pubs an Old-Firm-Tagen erst ab 11 Uhr vormittags Bier aus, die häusliche Gewalt, so besagen Studien, ist doppelt so hoch wie sonst. Drei Jahre lang mussten die Fans nach dem Zwangsabstieg der Rangers 2012 auf das Derby verzichten. Inzwischen gibt es das große Spiel wieder – beim letzten Aufeinandertreffen am vergangenen Sonntag hat es einen neuen Helden hervorgebracht: Der Franzose Moussa Dembele traf in der 87. Minute zum 1:0-Sieg für Celtic.

Belgrad, Serbien

Nur ein paar Hundert Meter liegen die Stadien von Partizan und Roter Stern in der serbischen Hauptstadt auseinander. Alarmstufe Rot herrscht jedes Mal, wenn sich beide Teams gegenüberstehen – im Ewigen Derby, wie das Duell aufgrund seiner langen Tradition und heißblütigen Rivalität bezeichnet wird. Es ist ein Spektakel – nicht zuletzt auf den Rängen. „Delje“ (Helden) nennen sich die Fans von Roter Stern, deren Choreografien perfekt organisiert sind; einen eher ­anarchischen Ansatz pflegen die Partizan-Anhänger, die sich selbst als „Grobari“ (Totengräber) bezeichnen. In den besten Zeiten – 1991 gewann Roter Stern den Europapokal der Landesmeister – gehörte das Stadtduell zu den hochwertigsten Spielen Europas. Das Niveau ist seither immer niedriger geworden – an Brisanz aber hat das Ewige Derby nichts eingebüßt.

Mailand, Italien

„Derby della Madonnina“ heißt das große Mailänder Stadtduell zwischen Inter und AC, benannt nach der Madonnenstatue auf der Turmspitze des Doms. Früher galt Inter als der Club der Künstler und Intellektuellen, eher aus der Arbeiterschicht rekrutierte Milan seinen Anhang. Inzwischen haben sich diese Grenzen weitgehend aufgelöst. In allen Schichten und in allen Stadtvierteln finden sich Fans beider Vereine, die ihre Spiele in der gleichen Arena austragen, im Giuseppe-Meazza-Stadion in San Siro. „Das Mailänder Derby löst in der ganzen Stadt eine Euphorie aus, die ich nirgendwo anders so intensiv erlebt habe“, sagt Hansi Müller, der in den frühen 80ern nach seinem Abschied vom VfB Stuttgart das Inter-Trikot getragen hat. Nahezu ausgeglichen ist die Bilanz nach rund 300 Derbys: 114-mal hat Inter gewonnen, 106-mal Milan.

Quelle: Stuttgarter Zeitung


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