Neue Zeugen aufgetaucht

Ultra-Prozess wird turbulent

Der Prozess gegen einen VfB-Ultra wegen versuchten Totschlags kommt in schweres Fahrwasser. Plötzlich sind drei neue Zeugen aufgetaucht, von denen die Verteidigung bisher nichts wusste.


Fan-Randale

Zu Beginn der Hauptverhandlung vor drei Wochen schien schnell alles klar zu sein. Der 18-jährige Extremfan des VfB Stuttgart legte ein schonungsloses ­Geständnis ab, beteuerte seine Reue und bat die zwei von ihm und einem Mob aus Ultras attackierten Polizisten um Verzeihung. Er gab sogar zu, eine vorher abgerissene Parkhausschranke auf einen der Hundeführer geworfen zu haben, und zwar in Richtung Oberkörper und Kopf.

Jetzt ist nichts mehr klar. Am Geständnis des ehemaligen Kirchenchorsängers und jetzigen Studenten hat sich zwar nichts geändert. Doch Cornelie Eßlinger-Graf, Vorsitzende Richterin der 4. Strafkammer, ist ebenso verschnupft wie die Verteidigung. Bei der Vernehmung von Polizeibeamten, die sich in der Ultraszene auskennen, tauchen plötzlich neue Zeugen und sogar Beschuldigte auf, von denen niemand wusste.

„Tut die Scheißköter weg“

Am Abend des 6. März dieses Jahres, der VfB hatte gerade 0:0 gegen Hertha BSC gespielt, waren zwei Beamte der Hundeführerstaffel mit ihren Hunden Hotch und Joy von rund 80 VfB-Ultras auf der Eisenbahnstraße an ihrem Einsatzfahrzeug erst beschimpft („Scheißbullen, tut die Scheißköter weg“) und dann angegriffen worden. Feuerzeuge flogen ebenso wie schwere Steine und Flaschen. Der Angeklagte schleuderte eine drei Kilo schwere Schranke gegen einen Beamten. Dessen Kollege wurde von einem Wurfgeschoss am Kopf getroffen und ging zu Boden, seine Hündin Joy wurde getreten. Erst als einer der Beamten drei Warnschüsse abfeuerte, flohen die Täter. Der Angeklagte hat ausgesagt, er könne keine Mittäter benennen. Der Pulk habe aus Mitgliedern verschiedener Ultra-Gruppen bestanden, alle seien vermummt gewesen.

Am Dienstag sagte nun eine szenekundige Polizistin vor Gericht aus, sie habe anhand der Videos zwei ihr bekannte Ultras identifizieren können. Die Augen der Richterinnen und Richter sowie der beiden Verteidiger wurden groß und größer. Denn davon wusste man bis dato nichts. Der eine identifizierte Ultra, so sei auf dem Video zu sehen, trete die Hündin des einen Beamten, der andere Ultra stehe neben dem Angeklagten in „aufwiegelnder Pose“.

Beide Fußballrowdys seien vernommen und wegen Landfriedensbruchs angezeigt worden. Beide hätten die Aussage verweigert. In den Ermittlungsakten zum laufenden Prozess tauchen sie indes nicht auf. Ebenso wenig wie ein unbeteiligter Mann, der zur Tatzeit in einem Auto nahe des Tatorts auf dem Beifahrersitz saß und freie Sicht gehabt haben soll. Auch er ist offenbar von der Polizei vernommen worden, in den Ermittlungsakten aber nicht zu finden. „Ich bin ziemlich angefressen“, so Vorsitzende Richterin Eßlinger-Graf.

Verteidigung will Aussetzung des Verfahrens

Verteidiger Markus Bessler hat daraufhin beantragt, das Hauptverfahren auszusetzen. Beim jetzigen Verfahrensstand sei eine sachgerechte Verteidigung nicht mehr gewährleistet, so Bessler. Zumal seit Beginn des Prozesses am 29. September eine Vielzahl von neuen Beweismitteln aufgetaucht sei, unter anderem eine unüberschaubare Anzahl von Videosequenzen, die das Tatgeschehen aus verschiedenen Blickwinkeln aufzeigen würden.

Nach der Vernehmung mehrerer Polizeibeamter kristallisiere sich zudem heraus, dass die Polizisten nicht einmal wüssten, wer Hauptsachbearbeiter des Falles sei. Er verstehe auch nicht, so Bessler, warum die zwei identifizierten mutmaßlichen Mittäter lediglich des Landfriedensbruchs beschuldigt werden, sein Mandant aber eines versuchten Tötungsdelikts. „Ich möchte mich hier nicht für dumm verkaufen lassen“, so Bessler. Es scheint so, dass die Strafkammer selbst Abstand vom Vorwurf des Totschlagsversuchs nimmt.

Die folgenden beiden Prozesstage fallen aus. Am 30. Oktober soll nun unter anderem der unbeteiligte Zeuge gehört werden. Wie es dann weitergeht, ist unklar. Der Angeklagte ist gegen Kaution auf freiem Fuß.

Quelle: Stuttgarter Nachrichten


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