Bundesliga

Stuttgarts Furcht vor Erzgebirge Aue

Sport in all seinen Facetten zählt mit zu den inneren Schubkräften einer modernen Hochleistungsgesellschaft. Weshalb es ein Problem ist, wenn eine der wichtigsten Turbinen nur noch auf mäßigen Touren laufen sollte.



Weil die Gedanken eines Trainers im Kampf gegen den Abstieg zwangsläufig nicht viel weiter reichen als von einem Tor zum anderen, ist Huub Stevens noch nicht angekommen in der Wertewelt einer Region, die viele Gründe liefert, um stolz auf sie zu sein.

Jedenfalls stößt das Maß an Langmut, mit dem die Sportsfreunde aus Stuttgart und Umgebung dem schleichenden Platten des VfB begegnen, auf sein Unverständnis – das tiefer ist als der Abgrund, in den der Verein für Bewegungsspiele 1893 stürzen könnte. „Mir ist das alles viel zu negativ hier“, knarzte der Niederländer vor Tagen, „warum gibt es keine Aufbruchstimmung?“

Eine legitime Frage, die allerdings zu dem Trugschluss verleiten könnte, wonach es die Menschen bei Bosch, Daimler, Porsche, Trumpf, Kärcher oder Stihl einen feuchten Kehricht interessiert, ob der sportliche Leuchtturm einer Region, die wirtschaftlich in der Champions League spielt, seine Strahlkraft verliert.

Viel wahrscheinlicher ist: Wer sich als erstklassiges Unternehmen erfolgreich einer weltweiten Konkurrenz erwehrt, die permanent mit allen Mitteln an die Tabellenspitze drängt, ist eben ein bisschen mehr als andere mit den Vorzügen ausgestattet, welche die Helden in den weiß-roten Shirts vor dem Gang in die Zweitklassigkeit bewahren könnten: Teamgeist, Mut zum kalkulierten Risiko, Kampfeswille, Einfallsreichtum und Leidensfähigkeit.
Vorfreude auf Zweitliga-Derby mit den Kickers?

Da es zuletzt aber den Anschein hatte, dass diese Tugenden in Reihen der Cannstatter Rasenfachkräfte eher sparsam zum Einsatz kommen, beschränkt sich die Verbundenheit schwäbischer Seelen mit Stevens’ Spaßbremsen bis dato auf ein nach innen gewendetes Grummeln: „Des gibt’s doch net. Jede Saison der gleiche Schafsch. . .“

Und auf spöttische Bemerkungen am Arbeitsplatz: „Na, freust dich schon auf das Zweitliga-Derby gegen die Kickers?“ So wartet der VfB-Getreue, seit Jahren geübt im Umgang mit der Furcht vor dem Abstieg, in stillem Leiden auf den Funken, der das Feuer der Leidenschaft aufs Neue entfachen könnte.

Passieren könnte das schon an diesem Freitagabend, wenn der VfB Stuttgart das Aufeinandertreffen mit Borussia Dortmund aus irgendwelchen Gründen siegreich gestalten sollte. Sehr wahrscheinlich ist dieser Fall nicht, aber ein Segen wäre er ganz ohne Zweifel. Denn ein 1-a-Wirtschaftsstandort wie der hiesige, strotzend vor Kraft und Selbstbewusstsein, könnte das Sternchen dann doch sehr vermissen, das seine fußballerische Erstklassigkeit markiert.
VfB: wichtiges Instrument des Standort-Marketings

„Wenn der VfB Stuttgart absteigt, fehlt ein wichtiges Instrument des Standort-Marketing“, sagt André Bühler, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen. Weil es für umworbene Führungs- und Fachkräfte bisweilen eben doch einen Unterschied macht, ob sie an der Stätte ihres künftigen Wirkens den FC Bayern München zu Gesicht bekommen oder Erzgebirge Aue. Stuttgart ohne Bundesliga. Das wäre ein bisschen wie ein Sparbuch ohne Zinsen.

Im Verein mit Kultur, Museen, Schulen und Freizeiteinrichtungen zählt der Sport unbestritten zu den weichen Standort-Faktoren. Wolfsburg und das Engagement von VW dienen diesbezüglich als oft genannter Beleg. „Ob sie den VfB mögen oder nicht. Alle Personalabteilungen in der Region müssten großes Interesse an seinem Klassenverbleib haben“, sagt der Marketing-Experte Bühler.

Zwar würde der zweite Bundesliga-Abstieg des VfB Stuttgart nach 1975 wirtschaftlich in Stadt und Region keine nennenswerten Schneisen schlagen - aber kulturhistorisch konsequent betrachtet bereitet hierzulande jeder Euro weniger noch immer höchste seelische Pein.

Da passt es ins Bild, dass 82 Prozent der VfB-Mitglieder aus dem Land der Sparer stammen. Das Einzugsgebiet der Stadionbesucher reicht von Pforzheim bis Ulm, von Heilbronn bis Konstanz. Und was für den einen das Spiel ist, ist für den anderen das Brot.

Pro Heimspiel beschäftigt der Verein 2300 Menschen

Der VfB Stuttgart beschäftigt in der Mercedes-Benz-Arena pro Auftritt 2300 Menschen. Von der Hostess in der Sponsoren-Lounge über den Stadionordner bis hin zum Sanitäter. 30 Millionen Euro kassiert der Fiskus jährlich an Lohnsteuer, 20 Millionen fließen in Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer, eine Million Euro gehen als Ticket-Beitrag an den Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS). Den Werbewert des VfB für Stuttgart und die Region durch Nennungen in allen Medienarten taxierten Experten schon vor Jahren auf rund 50 Millionen Euro.

Das alles würde mit einem Abstieg zwar nicht auf null gestellt, aber deutlich schrumpfen. Die Ausgaben für die Lizenzspielermannschaft müssten von jetzt 40 Millionen Euro auf rund 20 bis 25 Millionen heruntergefahren, die Gehälter der 120 VfB-Mitarbeiter wohl um zehn Prozent gekürzt werden. Insgesamt büßt der Bundesligist beim Abstieg mindestens 35 Millionen Euro ein. Im ersten Jahr, im zweiten kommt es noch dicker. Das ist hart für den Verein, fast nicht spürbar dagegen für die Region.

„Die ökonomischen Folgen wären kaum der Rede wert“, sagt Markus Voeth, Professor für Marketing und Business Development an der Universität Hohenheim, „es gäbe aber psychologische Effekte.“ Und die sind so schwer berechenbar wie ein Bundesliga-Spiel vor dem Anpfiff. „Die Region“, schätzt Voeth, „orientiert sich stark an dem, was in Stuttgart passiert.“ Mit anderen Worten: Steigt der VfB ab, zieht es auch die Menschen im Umland ein bisschen mit runter.

Abstiegskampf schädlich für Ansehen und Selbstbewusstsein

Weil der fortwährende Kampf ums Überleben auf Dauer aber ebenso schädlich wäre für Ansehen und Selbstbewusstsein eines Landstrichs, der wirtschaftlich, kulturell und sportlich ziemlich viel auf sich hält, kann sich Voeth mit dem Gedanken anfreunden, dass der VfB Stuttgart eine Ehrenrunde durch die zweite Liga dreht. „Das bietet die Möglichkeit, um nach einem Relaunch wieder durchzustarten“, sagt der Professor und Fußball-Liebhaber. Weil es über die Jahre ja auch keine Lösung ist, das VfB-Gelände mit dem Mantra der leidgeprüften weiß-roten Glaubensbrüder zu fluten. „Ach Gottchen, die machen ja schon wieder alles falsch.“

Vieles richtig gemacht hat der Stolz schwäbischer Fußball-Herrlichkeit immerhin beim Umbau der Mercedes-Benz-Arena. Die auf 40 Jahre angelegte Partnerschaft zwischen VfB und Stadt Stuttgart, clever in eine Stadiongesellschaft gegossen, bewahrt den Steuerzahler zumindest ein, zwei Jahre nach einem Abstieg vor einem Zuschussgeschäft. Danach müsste man wohl über die Tilgungsrate der von der Stadt gewährten Kredite neu verhandeln.

Rund zehn Millionen Euro zahlt der Verein jährlich für Betrieb und Refinanzierung der Umbaukosten (60 Millionen Euro), davon 5,2 Millionen Euro an die Stadt. 14,3 Millionen fließen nach Vereinsangaben durch die Eigenvermarktung der Spielstätte an den VfB zurück. „Wir drücken dem VfB im Rathaus alle die Daumen“, sagt Pressesprecher Sven Matis, „und das nicht nur aus finanziellen Gründen.“
Für Siege gibt es keinen Ersatz

Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) preist das Stuttgarter Modell als besonders nachahmenswert. Emissäre des SC Freiburg machten sich erst kürzlich bei den Sparfüchsen in der Mercedesstraße schlau. Der Neubau des Ligarivalen soll sich ganz ähnlich finanzieren.

Was den VfB Stuttgart zwar ehrt, ihm aber keine Punkte bringt. Für Siege, heißt es im Fachjargon, gibt es keinen Ersatz. Was im weitesten Sinne auch für die Spielmacher in der Wirtschaft gilt. Daimler-Personalvorstand und VfB-Aufsichtsrat Wilfried Porth betont den Schulterschluss auch in schlechten Zeiten: „Wir stehen nicht nur in guten Zeiten fest zusammen. Viele unserer Mitarbeiter in den Standorten der Region sind VfB-Fans. Der Verein ist ein Stück Heimat,“ sagt Porth.

„Fürs Image einer Stadt ist ein Fußballverein von großer Bedeutung“, meint Armin Dellnitz, Geschäftsführer der Stuttgart-Marketing GmbH, „er schafft Sympathien. Und seine Leistungen werden als Werte auf die Stadt und ihre Region übertragen.“ In guten wie in schlechten Zeiten.
"Aber schad’ wär’s schon..."

Weshalb ein Hotelier nicht unbedingt reich wird, wenn – wie 2007 nach der deutschen Meisterschaft – über 200 000 begeisterte Menschen auf den Stuttgarter Schlossplatz strömen. Andererseits wird er auch nicht gleich zum Sozialfall, falls es den VfB Stuttgart doch mal erwischen sollte. „Natürlich ist so ein Bundesliga-Club ein Aushängeschild“, bestätigt Daniel Ohl, Pressechef des Hotel- und Gaststättenverbands Baden-Württemberg, „und wenn 50 000 Zuschauer in die Stadt kommen, löst das was aus. Da bleibt Geld liegen. Es wäre aber unseriös, wenn man im Fall eines Abstiegs von messbaren Verschlechterungen reden würde. Zum Beispiel bei den Übernachtungszahlen.“

Ziemlich genau benennen kann die Folgen der Zweitklassigkeit dagegen Hertha Hohl. „Drei, vier Zimmer sind immer ­belegt, wenn die Gegner aus Hamburg oder Berlin kommen“, sagt die Chefin des „Stadthotels am Wasen“ nahe der ­Mercedes-Benz-Arena.

Und als es vergangene Saison so richtig ernst wurde mit dem Kampf gegen den Abstieg, „waren es fast immer 20 Zimmer“. Trotzdem: Ihr Schicksal und das ihres Hotels entscheidet sich nicht daran, ob der VfB drinbleibt oder nicht. Es gibt ja noch ­andere Veranstaltungen im Neckarpark. „Aber schad’ wär’s schon“, stößt sie mit einem tiefen Seufzer nach. Und trifft damit vermutlich die Stimmung der ganzen Region.

Quelle: Stuttgarter Nachrichten


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