Die Politik der kleinen Schritte

Stuttgart/Braunschweig - Der Abend in Braunschweig ist kalt geworden, bitterkalt sogar. Vernünftigerweise schlüpfen die Spieler des VfB Stuttgart in dicke rote Daunenjacken, die gleich nach dem Schlusspfiff gereicht werden. Nur Thomas Schneider will keine, der Trainer steht auch jetzt noch in seinem kurzärmeligen Polohemd da. Fast fühlt man sich an Jochen Rücker erinnert, den einstigen Torwarttrainer, der auch im Schneegestöber immer ungerührt in kurzen Sporthosen auf der Bank saß. Von einem solchen Markenzeichen mag Schneider nicht sprechen – der Manager Fredi Bobic hingegen hegt einen anderen Verdacht: „Der Trainer scheint ein bisschen abergläubisch zu sein.“

Tatsache ist: im Polohemd ist Thomas Schneider auch in seinem vierten Bundesligaspiel ungeschlagen geblieben. Nach dem souveränen 4:0 am Sonntagabend bei Eintracht Braunschweig lautet die stattliche Bilanz: drei Siege und ein Unentschieden, zwölf Tore erzielt und nur drei kassiert. Von Tabellenplatz 17 ist seine Mannschaft dadurch auf Rang sechs geklettert. Den Jubel allerdings überlässt der Trainer allein den Spielern.

Ibisevic schaut nach ganz oben

Hinter den Bayern, Borussia Dortmund und wohl auch Leverkusen sei in dieser Saison alles möglich, sagt der Torschütze Vedad Ibisevic, „mit ein bisschen Glück können wir in dieser Saison weit oben landen“. Als „entscheidenden Schritt nach vorne“ wertet es der Kapitän Christian Gentner, dass der VfB im Gegensatz zur Vorsaison nun auch schwächere Gegner wie Braunschweig beherrschen könne. „Man hat gesehen, welch große Qualität wir in der Mannschaft haben“, sagt Gentners Nebenmann im Mittelfeld, William Kvist.

Höchster Auswärtssieg seit dreieinhalb Jahren

Tatsächlich lieferte die zweite Hälfte gegen freilich bemitleidenswert schwache Niedersachsen einige Anhaltspunkte, die auf einen nachhaltigen Aufwärtstrend hindeuten. Der VfB kombinierte durchaus flott nach vorne und spielte sehenswerte Tore heraus. Ibrahima Traoré wusste als Vorbereiter und Vollstrecker gleichermaßen zu glänzen, macht sich also daran, wieder an die gute Form der Vorsaison anzuknüpfen und bekam dafür vom Trainer ein Sonderlob. Und auch Martin Harnik, seit Wochen im Formtief, holte sich nach seiner Einwechslung mit einem Tor ein bisschen Selbstvertrauen zurück. Kurzum: nach der Pause lief „alles wie am Schnürchen“, wie auch Schneider erfreut feststellte.

Schlagabtausch mit langen Pässen

Der Trainer vergaß aber auch nicht an die zähe erste Hälfte zu erinnern, in der nicht nur der hilflose Aufsteiger, sondern auch seine Mannschaft „etwas wenig Fußball bot“. Sie wiederum lieferte Schneider den Beweis dafür, dass Euphorie und Übermut auch nach dem höchsten Auswärtssieg seit dreieinhalb Jahren (5:1 in Köln) nicht angebracht sind. Hoch und weit flogen die Bälle in Braunschweig hin und her, ehe wieder einmal eine Standardsituation half, um zum Torerfolg zu kommen. „Wir dürfen uns eigentlich nicht auf so einen Schlagabtausch mit langen Bällen einlassen, sondern müssen dahin kommen, das Spiel von hinten heraus aufzubauen“, sagt Schneider.

Der Trainer verbietet sich daher auch weiterhin den Blick auf die Tabelle und die möglichen Perspektiven, die sich daraus ergeben: „Die Tabellensituation spielt für uns überhaupt keine Rolle.“ Er habe „kein Fernziel“, er denke nur an „das nächste Training, das nächste Spiel, den nächsten Schritt“. Es ist die Politik der kleinen Schritte, die irgendwann dazu führen soll, dass der VfB einen Gegner wie Braunschweig ein ganzes Spiel lang dominiert und auch gegen bessere Teams so schwungvoll kombiniert wie in der zweiten Hälfte. „Das geht nicht durch Handauflegen“, sagt Schneider, „das ist ein langer Prozess.“

Dann steigt der VfB-Trainer endlich in den Stuttgarter Mannschaftsbus – und hat Glück: Die Heizung läuft schon.

Quelle: Stuttgarter Zeitung