So funktioniert das neue VfB-System

Jeder Fußballfan kennt dieses unbehagliche Gefühl: Spielt der Gegner heute mit einem Mann mehr? Nein, er ist nur ständig in Überzahl in der Nähe des Balls. Das hört sich einfach an, ist aber ziemlich anspruchsvoll.


Der neue VfB-Trainer Alexander Zorniger probiert es mit einem ganz neuen System

Es war eine Idee, die den Fußball revolutionierte. Anfang der achtziger Jahre sog der wissbegierige Brückenbauingenieur und Fußball-Liebhaber Helmut Groß das Beste aus den Spielsystemen bekannter Trainer wie Arrigo Sacchi (AC Mailand), Gyula Lorant (u.a. Eintracht Frankfurt), Pal Csernai (u.a. Bayern München) oder Valerie Lobanowski (UdSSR/Dynamo Kiew).

Daraus entwickelte der Geislinger eine Spielidee, die zum ersten Mal für Aufsehen sorgte, als seine Oberliga-Elf den HSV aus dem DFB-Pokal kegelte (2:0). Es waren die Anfänge einer Philosophie, die er gemeinsam mit dem Lehrstab des Württembergischen Fußballverbands (WFV) zur ballorientierten Raumdeckung weiterentwickelte. Ihr prominentester Verfechter: Ralf Rangnick, zurzeit Coach beim Zweitligisten RB Leipzig. Durchgesetzt hat sich die Idee jedoch erst um die Jahrtausendwende.

Heute basiert das Spiel des FC Barcelona auf dieser Idee, der FC Bayern hielt sich beim Triple-Sieg unter Jupp Heynckes daran, Jürgen Klopp machte es mit Borussia Dortmund zum Erfolgsmodell. 1899 Hoffenheim rockte nach dem Aufstieg mit Rangnick zumindest eine Halbsaison lang die Bundesliga. Und Joachim Löw feierte mit der leicht modifizierten Spielidee den WM-Titel mit der deutschen Elf. Jetzt kehrt das System beim VfB an seine Ursprünge zurück. An diesem Samstag (20.30 Uhr/Sky) wird es im DFB-Pokal bei Holstein Kiel erstmals angewandt.

Raum und Zeit: Ein Freund und VfB-Fan brachte Helmut Groß einst auf die Idee: Ihm war aufgefallen, dass der VfB häufig dann den Ball eroberte, wenn Libero Dragan Holczer seine Manndecker unterstützte. Heute spricht man vom „Doppeln des Gegenspielers“. Das klappt aber meist am besten, wenn dem Gegner möglichst wenig Raum und Zeit bleiben, um sein Spiel aufzuziehen.

Was liegt also näher, als die Abstände zwischen den einzelnen Spielern möglichst gering zu halten? Die Positionen werden vertikal und horizontal imaginär verkettet. Es entsteht ein engmaschiges Netz, das sich permanent in Richtung des Balls verschiebt. Das Geflecht lässt sich in Dreiecke einteilen, die den Spielern Hinweise auf ihre Laufwege geben und welche Position sie je nach Spielsituation besetzen müssen.

Überzahl in Ballnähe: Um Überzahl in Ballnähe zu schaffen, müssen die Spieler viel und schnell laufen. Der ballführende Gegner gerät unter Druck, wird „gepresst“, kommt nicht mehr zum ruhigen Spielaufbau und riskiert Fehlpässe.

Sekundenregeln: Spielanalysen ergaben: die meisten Treffer fallen innerhalb von zehn Sekunden nach Ballgewinn, weil der Gegner diese Zeit braucht, um seine Ordnung wieder herzustellen.

Sprints und Ballgewinn: Häufige Sprints möglichst vieler Spieler setzen den Gegner unter Druck und stören seinen Spielaufbau. Beim Ballgewinn ist die Mannschaft bereits in der Vorwärtsbewegung und kann in hohem Tempo weiter in Richtung Tor steuern.

Spiel in die Tiefe: Das bedeutet: Nach dem Ballgewinn geht die Post sofort und nach Möglichkeit auf kürzestem Weg zum Tor (also durch die Mitte) nach vorne ab – möglichst flach und steil und über mehrere Spielebenen. So gewinnt ein Team maximal Raum und Zeit.

Gegenpressing: Kommt der Gegner an den Ball, wird er sofort wieder unter Druck gesetzt. Je schneller umso besser. So bleibt ihm wenig Zeit, um das Leder zu kontrollieren. Die größten Erfolgschancen, um den Ball zurückzuerobern, hat das gegenpressende Team innerhalb von fünf Sekunden.

Keine Angst vor Ballverlust: Die Mannschaft spielt möglichst oft schnell und vertikal. Das Risiko von Fehlpässen steigt. Weil sie den Gegner jedoch schon weit in dessen Hälfte sofort wieder attackiert, muss sie weniger Angst vor Ballverlusten und Kontern haben.

Angriffsmodus: Sind die Bewegungsabläufe perfekt automatisiert, befindet sich die Mannschaft streng genommen permanent im Angriffsmodus. Sie hält die Räume eng, setzt den Gegner mit vielen Sprints und Dribblings unter Druck, wenn sie am Ball ist – und „jagt ihn“ (Zorniger), sobald das Leder wieder verloren geht.

Die Spielidee auf Basis der ballorientierten Raumdeckung hat einen hohen Unterhaltungswert fürs Publikum, aber selbst renommierte Trainer scheuen die reine Lehre des Systems. Denn es gibt auch Risiken:

Training: Nicht jeder Coach hat die Fähigkeit, die Spielidee überzeugend zu vermitteln und einzustudieren. Die Bewegungsabläufe und Verhaltensmuster müssen aber automatisiert werden.

Unwirksames Pressing: Eine Mannschaft, die den Gegner ohne Sinn und Verstand presst, vergeudet wertvolle Energie. Lohnendes Pressing ist das Zauberwort (wo sind Schwachstellen beim Gegner?), das aber viel Spielintelligenz erfordert.

Physis: Das System ist enorm anstrengend, physisch wie psychisch. Reichen Kraft und geistige Frische für eine ganze Saison, verfügt der Spielerkader notfalls über genügend brauchbare Alternativen?

Die Abwehr: Vor allem die Abwehrspieler müssen pfeilschnell sein, um aus der Umdrehung heraus lange geschlagene Bälle über die Defensivformation noch erlaufen zu können.

Quelle: Stuttgarter Nachrichten


Mummi [Linked Image]