Der Anti-Kahn

Stefan Marinovic ist die neue Nummer eins der SpVgg Unterhaching. Unaufgeregt besteht der 23-jährige Neuseeländer das Abenteuer Profifußball - 18 000 Kilometer von seiner Heimat entfernt. In Christian Ziege hat er einen Trainer gefunden, der ihm Vertrauen schenkt.

Das andere Extrem ist wahrscheinlich Oliver Kahn. Vom langjährigen Torwart des FC Bayern und der Nationalmannschaft hieß es ja immer, er sei geradezu zerfressen von Ehrgeiz und verkrampfe förmlich im Streben nach Verbesserung seiner Leistungsfähigkeit. Kahn vermittelte oft den Eindruck, die Bürde, erfolgreich sein zu müssen, raube ihm jegliche Lockerheit. Umso überraschter sind viele Beobachter, dass er in seiner neuen Funktion als Fernsehexperte immer wieder kesse Sprüche präsentiert.

Nicht jeder Fußballtorwart geht mit einer solchen Verbissenheit wie Kahn an seine Aufgabe heran. Es ist vielleicht auch eine Frage der Mentalität, dass beispielsweise Stefan Marinovic, die aktuelle Nummer eins der SpVgg Unterhaching, eine geradezu plakative Gelassenheit an den Tag legt. Der 23 Jahre alte Keeper wurde in Neuseeland geboren, sein Vater ist ein kroatischer Auswanderer, der vor 50 Jahren seine Sachen packte und sich am anderen Ende der Welt ansiedelte.

Dass der Sohn den umgekehrten Weg einschlug, liegt an seiner Berufswahl: Stefan Marinovic will im Profifußball Fuß fassen, was gar nicht so einfach ist - das musste er in den vergangenen Jahren bereits erfahren. Schon als 17-Jähriger bewarb er sich bei Probetrainings unter anderem in Everton und auf Schalke um ein Engagement, ein Jahr später war er dann bei Werder Bremen und dem Hamburger SV zu Gast, ehe es beim SV Wehen Wiesbaden mit einem Vertrag klappte. "Wie ich später erfahren habe, gab es Probleme mit meinem Berater", sagt der 1,91-Meter-Hüne. Der Agent wollte angeblich für sich selbst eine zu hohe Provision herausschlagen, deshalb hätten die meisten Interessenten vor einer Verpflichtung des jungen Torwarts zurückgeschreckt.

Die Sache mit dem Heimweh war nie ein Thema für Marinovic, auch wenn Unterhaching mehr als 18 000 Kilometer Luftlinie von seiner Heimatstadt entfernt liegt: "Ich war als Kind im Internat, wohne schon nicht mehr zu Hause, seit ich 13 Jahre alt war." Und so sieht er es eher als ein riesiges Abenteuer denn als Belastung, dass er sich in der Fremde behaupten muss. "Diese Möglichkeit bekommt nicht jeder im Leben. Für mich war klar, dass ich sie unbedingt wahrnehmen will", sagt der Hachinger Torwart.

Schon frühzeitig war klar, dass er nicht Neuseelands Nationalsportarten anhängen würde. "Cricket war mir immer zu langweilig und Rugby hat mir mein Vater verboten", sagt Marinovic. Der Senior wollte seinen Sohn vor den bei Rugbyspielern häufig auftretenden Gehirnerschütterungen bewahren. Frühzeitig zeichnete sich dagegen ab, dass Marinovic ein guter Fußballtorwart werden könnte, er wurde sowohl mit der U14 als auch mit der U15 neuseeländischer Meister und gehörte der Schülernationalmannschaft an.

Dass es in Wehen dennoch nicht zum großen Wurf reichte, lag zunächst auch an der Einstellung des jungen Mannes: "Ich wusste noch nicht, wie das Profigeschäft funktioniert, musste mich erst eingewöhnen." Ursprünglich als dritter Torwart verpflichtet, wurde der Neuseeländer im zweiten Jahr Stammkeeper der Reserve, die damals immerhin in der Regionalliga spielte. Der Durchbruch blieb aus, obwohl Marinovic voll integriert war: Die Sprache erlernte er zügig, schon ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Wiesbaden verstand er praktisch alles und begann sukzessive, sich auch selbst fehlerfrei zu artikulieren. Heute, gut vier Jahre später, spricht er nahezu akzentfrei Deutsch.

Seinen bisherigen Karrierehöhepunkt erlebte der Schlussmann im Sommer 2011: Der Absolvent der Wynton Rufer Soccer School of Excellence stand bei der U20-Weltmeisterschaft im Kasten der neuseeländischen Auswahl. Und auch wenn das Team nach beachtlichen Unentschieden gegen Uruguay und Kamerun (je 1:1) und einer knappen Niederlage gegen den späteren WM-Zweiten Portugal (0:1) als Gruppendritter in der Vorrunde ausschied, konnte Marinovic überzeugen. Die Technische Studien-Gruppe (TSG) der Fifa attestierte ihm in ihrem Bericht, ein "sicherer und reaktionsschneller Torhüter" zu sein, "stark auf der Linie".

Mit diesem Führungszeugnis ging Marinovic anschließend wieder auf Vereinssuche in Deutschland. Letztlich ohne Erfolg, er hängte noch eine unbefriedigende Saison beim SV Wehen dran, ehe er im Februar 2013 zum FC Ismaning kam. Dort hatte gerade Roman Grill das Traineramt von Frank Schmöller übernommen. Es kam zu einer Revolte von fast einem Dutzend Stammspielern, darunter Ismanings Nummer eins, Andreas Rössl. Marinovic wäre daraufhin zum Stammtorwart aufgerückt, hätte Rössl nicht im letzten Moment einen Rückzieher vom Boykott gemacht.

Und Marinovic ging wieder auf Achse, hielt sich beim TSV 1860 fit, bekam auch dort einen Vertrag, lernte viel von Routinier Gabor Kiraly; blieb jedoch auch bei den Löwen ohne Chance auf Spielpraxis.

Nun also seit Sommer 2014 Unterhaching - und endlich einmal ist Marinovic das Glück hold: Stammtorwart Michael Zetterer wechselte im Winter zu Werder Bremen, Marinovic hatte da schon so eine Ahnung und hängte sich in der Vorbereitung ganz besonders rein. Das blieb Trainer Christian Ziege nicht verborgen: "Er hat sich sehr ehrgeizig gezeigt und daran gearbeitet, seine Defizite abzuarbeiten." Der Coach entschied, den Neuseeländer und nicht Konkurrent Felix Ruml das Vertrauen zu schenken. "Er hat sich den Platz wirklich hart erarbeitet", so Ziege weiter. "Darüber bin ich natürlich sehr froh", sagt Marinovic, der in der Vorrunde zumeist in der Bayernliga-Elf gehalten hatte und auf seinen Übungsleiter große Stücke hält: "Er weiß, was er will, ist sehr offen und direkt und kennt das Profigeschäft in- und auswendig."

Trotz seiner aktuell guten sportlichen Situation bleibt Marinovic seinem Naturell entsprechend auf dem Teppich. Und verweist auf seine Lebensplanung: "Mit 45 will ich etwas machen können." Deshalb absolviert er ein Fernstudium, macht seinen Bachelor in "Business Studies". Neben dem Fußball bleibt da nicht mehr viel Zeit für private Unternehmungen. Marinovic lebt in einer Vierer-WG, mit dem kleinen Gehalt von der SpVgg und etwas Unterstützung von seinem Vater kommt er gut über die Runden. Wie lange er dem Fußballgeschäft treu bleiben wird, weiß er noch nicht: "Ich schaue immer am Ende einer Saison, wie es weitergeht. Ich lebe sozusagen von Jahr zu Jahr." Cool, locker, ohne sich selbst Druck zu machen. Eben ganz der Anti-Kahn.

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