FORTSETZUNG

Deutschlands älteste Ultragruppe kommt aus Köln
»Mit dem Mofa in den Block!«

Die Brüder, Söhne italienischer Einwanderer, haben seit ihrer Kindheit ein Faible für die Serie A. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn das San Siro beim Derby della Madonnina wackelt oder die Kurve von Atalanta Bergamo in Flammen steht. Sie studieren Tifo-Fanzines oder lesen die »Gazzetta dello Sport«. Sie kleben vor dem Fernseher, wenn die Sportschau Bilder aus Südeuropa zeigt.

Und sie erkennen die idealen Voraussetzungen im Südstadion. In diesem Vakuum, so hoffen sie, könnte etwas Neues entstehen. Etwas Buntes wie in Italien. Etwas Ultrageiles.

Im Südstadion riecht es nach Aufbruch

Am ersten Spieltag 1986/87, einem Heimspiel gegen Bielefeld, machen sich die Brüder auf den Weg, im Südstadion riecht es nach Aufbruch. Sie haben auch eine Fahne dabei, auf der ihr Name prangt. Den haben sie der bekannten römischen Gruppe Lazio Eagles entliehen. Nicht weil sie Lazio-Fans sind, sondern weil der Name was hermacht. Mehr jedenfalls als »Rothosen« oder »Schalker Knappen Coesfeld«.

Der Verein möchte nichts von der neuen Gruppe wissen. Der Fußballfan, das unbekannte Wesen. Andere freuen sich, schließlich ist endlich was los im Südstadion. Wieder andere fragen, ob sie mitmachen dürfen. Bächti stößt 1988 dazu, bis Mitte der Neunziger wächst die Gruppe auf über 50 Mitglieder.

»Soooo riesig war die!«

Unter der Woche oder an spielfreien Wochenenden fahren Marco und Renato nach Italien. Es sind Entdeckungsreisen, schließlich gibt es kein Internet und keine Handys. Die Fans müssen selbst aktiv werden. Sie vernetzen sich über Anzeigen in Fanzines und schreiben Briefe. In Mailand oder Genua kaufen sie in Tifo-Shops Banner, Schals oder Aufkleber.

Die Motive skizzieren sie vorher auf Papier und verschicken sie per Post. Sie lassen auch eine Schwenkfahne anfertigen. Bächti, dieser massive Kerl, breitet seine Arme aus und sagt: »Soooo riesig war die!« Es soll die erste Fahne dieser Art in Deutschland gewesen sein.

»Eine neue Welt war das«

Anfang der Neunziger wirkt Italien auch auf andere Fanszenen wie das Gelobte Land. Die WM 1990, Serie-A-Spiele im Free-TV, Inter und die Roma im UEFA-Cup-Endspiel – die italienische Fankultur erreicht die deutschen Wohnzimmer und dann die Bundesligakurven. In Leverkusen gründen sich 1989 die Soccer Boyz, in Nürnberg und Frankfurt entstehen bald weitere Gruppen.

Auf ihren Reisen freunden sich die Fortuna-Fans mit Sampdoria-Ultras oder einem Inter-Mailand-Fanklub aus Savona an. Manchmal begleiten sie die Italiener sogar zu Spielen. »Eine neue Welt war das«, sagt Renato. »Einmal ist einer der Anführer mit seinem Moped direkt in den Block gefahren«, sagt Marco, und dann ist es kurz still im Fortuna-Vereinsheim. »Mit dem Mofa in den Block!«, wiederholt Marco mit einer Betonung auf Mofa.

Deutschlands älteste Ultragruppe kommt aus Köln
Die Jungen am Tisch machen große Augen

Die Jungen am Tisch machen große Augen. So etwas sei heute undenkbar, sagt einer, und dann dürfen die Jungen ein wenig erzählen. Von blöden Regeln. Von Stress mit der Polizei. Von Stadionverboten. Und von der GmbH, die 14 Euro für einen Stehplatz verlangt. Muss man sich mal vorstellen! Das ist doch Dritte Liga!

»Die Leute reagieren heute zu skeptisch auf die Ultras, das sind doch oft noch kleine Jungs«, sagt Bächti, beinahe großväterlich. Er sitzt mittlerweile lieber im Südstadion, auswärts ist er auch nicht mehr immer dabei, und Marco zieht ihn deswegen auf. »Bekommste doch gar nicht mehr mit!«, sagt er, der bis vor kurzem mit seinem Bruder ein Restaurant in der Kölner Innenstadt geleitet hat.

»Die haben ihre Geschichten, wir unsere«

Aber auch die beiden Gründungsmitglieder sind seltener dabei, wenn Fortuna spielt. »Verpflichtungen, dies das«, sagen sie und meinen damit ihre Familien – wohlgemerkt nicht La Famiglia, die Eagles, sondern echte.

Bächti, Renato und Marco sind Wortführer, aber auch Zuhörer. Sie konnten loslassen, und vielleicht ist das ein Grund, weshalb die Gruppe nach 30 Jahren noch immer besteht. Weil die Alten sich gegenüber den Jungen mit ihren Bauchtaschen und Windbreakern nicht überlegen fühlen. Weil sie sich nicht aufspielen wie überlebensgroße Weise, die alles erlebt und gesehen haben. »Die haben ihre Geschichten, wir unsere«, sagt Marco, und er klingt dabei, trotz De-Niro-Ähnlichkeit, eher wie ein Vertrauenslehrer als ein Pate.

An den bengalischen Feuern stört sich niemand

Also weiter, alte Fotos gucken. Auf einem sieht man die Eagles in San Siro, irgendwann Anfang der Neunziger, ihr Banner hängt in der Kurve. Sie haben auch Ausschnitte der Zeitung »Il Secolo XIX« dabei. »Guck«, sagt Bächti und tippt auf ein Gruppenbild der Eagles vor einem Mailänder Café. »Die haben über uns berichtet, als wir mit Inter-Fans unterwegs waren.«

Nach 1990 erscheinen auch in der deutschen Presse Artikel über die »Eagles«. An den bengalischen Feuern, die Marco, Renato und die anderen abbrennen, stört sich niemand. Im Gegenteil: Die Zeitung »Köln Sport« schreibt über »die etwas andere Fanszene bei Fortuna«, und der Autor hält staunend fest: »Die Sprechchöre erinnern an nichts, was man aus deutschen Stadien kennt.«

Für jeden Ultra einen Fan-Polizisten

Bei den Eagles höre man kein »Olé, hier kommt Fortuna Köln«, sondern Referenzen an die Gruppe Fehlfarben: »Keine Atempause, der Löring treibt uns an, es geht voran.« Vorgesungen von Renato am Megafon.

Dieser Schäng Löring, der ewige Präsident, ist trotz seiner aufbrausenden Art einer der wenigen im Klub, der sich für die neue Gruppe interessiert. Als es um einen möglichen Stadionneubau geht, dürfen die Ultras sogar Anmerkungen machen. Die Kölner Polizei sieht die Eagles als Bedrohung. Schon Ende der Achtziger stellt sie bei Fortuna-Spielen für jeden Ultra einen Fan-Polizisten ab. Bei Auswärtsspielen eskortiert sie die Gruppe über Landesgrenzen bis nach Hause.

»Wir haben aus dem fahrenden Auto gepisst, bei 100 km/h«

»Einmal«, sagt Bächti, und einer aus der zweiten Generation kichert, denn er kennt die Geschichte, »einmal war’s übel. Sind aus Homburg gekommen, 300 Kilometer. Und wir durften nicht auf die Raststätte.« »Was habt ihr getan?«, fragt einer aus der dritten Generation. »Na, wir haben aus dem fahrenden Auto gepisst, bei 100 km/h«.

Die Polizei ist ratlos. Es gibt kaum Fanprojekte, und in der Soziologie wird das Thema nur marginal behandelt. Das öffentliche Bild der Ultras setzt sich aus Klischees zusammen. Aus Spielfilmen wie »Ultra«, den die ARD 1990 unter dem Alternativtitel »Blutiger Sonntag« ausstrahlt. Für die Behörden scheint die Sache klar: Ultras sind die neuen Hooligans. Vielleicht sogar Neonazis. Passt ja, so kurz nach der Wende, die Brandanschläge in Mölln und Rostock-Lichtenhagen. Dort tragen die Täter auch Bomberjacken. So wie die Eagles.

Ärger vorprogrammiert

»Wir wollten einen Einheitslook«, sagt Marco. »Sah cool aus und martialisch. Mit Neonazis hatten wir nichts zu tun.« Auf den Ärmeln prangt das Gruppenlogo, und manchmal wenden sie die Jacken und tragen das orangefarbene Innenfutter außen. So wie es die Marseille-Fans im Stade Velodrome machen. Der Ärger ist vorprogrammiert.

Am Bahnhof von Remscheid, erinnert sich Bächti, empfängt sie einmal nicht nur die Polizei, sondern auch eine Gruppe von älteren Damen, die den Fans mit ihren Regenschirmen eins überzieht.

Geschichten vom Unterwegssein

Mit dem Mofa in den Block, rüstige Rentnerinnen, Beinahe-Faustkämpfe mit Löring – es könnte immer so weiter gehen. Die Geschichten von Renato, Marco und Bächti haben etwas Märchenhaftes, so weit weg erscheinen sie. Es sind Geschichten von einem Leben, das vom Unterwegssein erzählt. Von einer Leichtigkeit, die dem Fußball lange verlorengegangen ist.

Heute gibt es die Ultrakultur »to go« im Internet: Klamotten, Videos, Bilder, alles. Es ist Segen und Fluch zugleich. Vertrackt wird es, wenn Altes, das nie hinterfragt wurde, mit der kritischen modernen Fankultur kollidiert.

»Sollen die doch reden.«

Bächti holt einen Schal hervor, auf dem »Gott mit uns« prangt. Im Internet kursiert ein Foto, auf dem sie diesen Schal präsentieren. Andere Fans prangerten die Eagles an, denn schon die Wehrmacht verwendete den Slogan. Haben sie auf die berechtigte Kritik reagiert? »Wir haben mit Rassisten nichts am Hut«, sagt Marco. Und dann: »Sollen die doch reden.« Es ist ein Satz aus den Achtzigern, als Fußballfans nichts erklären mussten.

Marco zieht die Augen zusammen, nun doch: Vito-Corleone-Blick. Er sagt: »Ultra heißt, für die Gruppe alles zu geben. Alles andere ist Nebensache.« Dann rollt er den Schal wieder ein.

Quelle: https://www.11freunde.de/artikel/deutschlands-aelteste-ultragruppe-kommt-aus-koeln/page/4